Das war doch nicht nötig!

VON SWETLANA MÜLLER

Als Michael zum ersten Mal bei mir anrief, reichte mir mein Vater mit missbilligendem Blick den Hörer und fauchte: „Da ist irgendein Georgier für dich – Mischa!“ Mit den Georgiern war mein Vater eigentlich eher befreundet, wohl deshalb, weil sie ihm gegenüber immer ihre berüchtigte Gastfreundschaft offenbarten. Diesmal war ihm aber die Situation ungewohnt: Da wurde seine kleine Tochter von georgischen Männern angerufen. In der Sowjetunion waren die Georgier für ihre Heißblütigkeit bekannt. Wahrscheinlich graute es meinem Vater, jemand noch Heißblütigeres als mich in die Familie zu bekommen. Seine Befürchtungen waren jedoch unbegründet. Mischa war kein Georgier, sondern Badenser. Aus Freiburg im Breisgau. Dort wächst zwar auch Wein, und der Schwarzwald ist fast so hoch wie der Kaukasus, die Menschen scheinen aber etwas friedlicher zu sein.

Michael hatte ich zwei Tage zuvor in einem St. Petersburger Musikclub während einer gewöhnlichen Razzia kennen gelernt. Ganz romantisch haben wir mit den Händen über dem Kopf an der Wand gestanden, ohne ein Wort wechseln zu können. Ab und zu schielte ich in seine Richtung; er sah typisch deutsch aus. In Russland ist es nicht unbedingt ein Kompliment, wenn dir jemand sagt, du ähnelst einem Deutschen. Ich schätze mal, das ist historisch bedingt. Als die Durchsuchung zu Ende war, kamen wir trotzdem ins Gespräch.

Es war eine gewöhnliche Unterhaltung von zwei einander sympathisch findenden jungen Leuten. „Was machst du in Petersburg?“, fragte ich, wohl wissend, dass er solche Fragen mindestens fünfzehnmal am Tag hört. Michael reagierte gelassen und erklärte zum fünfzehnten Mal an diesem Tag, dass er für ein Jahr zum Studieren hergekommen war. „Woher kannst du so gut Deutsch?“, wollte er wissen. Nun war ich an der Reihe mit der mittlerweile auswendig gelernten Antwort: „Ich habe eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht besucht und studiere Germanistik.“

Meine soliden Deutschkenntnisse versagten aber, als wir uns über andere, weniger geläufige Themen unterhielten. Mein Gesprächspartner redete zwar Deutsch, nur irgendetwas stimmte damit nicht. Hat er einen Sprachfehler, schoss es mir durch den Kopf. Oder ist er etwa breit? Wollte er mich verhöhnen? Mit der letzten Einschätzung lag ich wohl falsch, da er mich um meine Telefonnummer bat.

Gott sei Dank waren die Zeiten vorbei, wo ich meinen Vater um Erlaubnis bitten musste, wenn ich mich mit jemandem traf. Also ging ich vormittags an die Uni und abends mit Michael ins Kino oder in ein Konzert, ohne groß auf seine Sprachbesonderheiten zu achten. Ich verstand mittlerweile fast alles, was er sagte. Zwei Wochen später wollte mich mein Phonetikprofessor nach dem Seminar persönlich sprechen. „Sagen Sie, Sveta, unterhalten Sie mit jemandem aus Süddeutschland Verkehr?“, fragte er mich stirnrunzelnd. „Lassen Sie es! Ihre wunderbare Aussprache leidet darunter! Sie kriegen eine ausgesprochen dialektale Färbung, die badische nämlich!“ So erfuhr ich, dass ich mich in einen Badenser verliebt hatte.

Ein Jahr später saßen Michael und ich in seiner Wohnung in Berlin-Neukölln und überlegten, wie wir die ganzen Papiere besorgen könnten, die das Standesamt von Pärchen verlangt, die sich blödsinnigerweise entschlossen haben zu heiraten. Die Geburtsurkunden und Auszüge aus dem Stammbuch der Eltern hatten wir mit Mühe und Not zusammengekriegt. Was bedeutete aber um Gottes willen das Dokument mit dem Furcht erregenden Titel „Ehefähigkeitszeugnis“? Wie wird die Ehefähigkeit überhaupt bezeugt? Müsste ich dazu etwa Prüfungen in Frühstück-ans-Bett-Bringen, Knöpfe-Annähen, Erotisches-Vortanzen und Du-kommst-wieder-zu-spät-Nörgeln ablegen?

Eines Tages war ich so weit, die ganze Idee mit der Hochzeit hinzuschmeißen, weil ich mich nicht wirklich für ehefähig hielt. Michael war aber wohl anderer Meinung und rief beim Standesamt an, um rauszufinden, was unter diesem geheimnisvollen Begriff zu verstehen war. Eine freundliche Beamtin meinte: „Ganz einfach. Ihre Braut muss nach Russland fahren, sich im Reisepass einen Vermerk machen lassen, dass sie ledig ist. Damit geht sie dann hier in Berlin zur Russischen Botschaft, die diesen Vermerk offiziell übersetzt und beglaubigt. Und dann bekommt sie von uns eine Bescheinigung darüber, dass sie nach russischem Recht heiraten darf. Diese schicken Sie dann ans Gericht. Das Gericht überprüft die Angelegenheit, und nach fünf bis sechs Wochen haben Sie das Ehefähigkeitszeugnis in der Tasche.“ – „Könnte ich nicht die Ehefähigkeit meiner Braut selbst beglaubigen?“, fragte Micha vorsichtig. – „Nein! Das kann nur durch die zuständige Behörde erfolgen“, wurde ihm streng beschieden. „Dieses Zeugnis müssen alle in Deutschland heiratenden Ausländer vorweisen.“ – „Dann brauche ich auch einen! Ich bin Badenser!“, meinte Micha. Die Standesbeamtin legte einfach auf.

Also fuhr ich wieder nach Petersburg. Die Schwierigkeiten begannen schon beim Versuch, den Ledigkeitsvermerk für den Reisepass zu bekommen. „Kommen Sie in zirka zweieinhalb Monaten wieder. Und rufen Sie vorher an, ob wir dann so weit sind!“, sagte die unfreundliche Polizistin in der Passausgabestelle zu mir. Den Tränen nahe wankte ich aus dem Amt und ging in eine nahe Kneipe, ich brauchte moralische Unterstützung. In der Ecke entdeckte ich meinen alten Freund Andrei beim Kaffeetrinken. Als er von meinem Kummer erfuhr, lachte er höhnisch: „Komm, das erledigen wir in zwei Minuten“, meinte er. Wenig später standen wir vor derselben Tante, eine riesige Pralinenschachtel in der Hand, ein Fünfzig-Mark-Schein ragte schüchtern aus der Verpackung. „Oh, das war doch nicht nötig!“ Die Polizistin wurde fast genauso rosa wir ihr Rouge. Zehn Sekunden später hatte ich meinen Pass mit dem ersehnten Vermerk. So verlor ich meine Jungfräulichkeit in Sachen Bestechung.

Schon nach vier Wochen Prüfen war das deutsche Gericht von meiner Ehefähigkeit voll überzeugt: Wir durften heiraten! Die Hochzeit verlief wild und lustig. Für die Völkerverständigung zwischen den Gästen aus Russland und Baden-Württemberg luden wir extra mehrere diplomierte Dolmetscher ein.

SWETLANA MÜLLER ist verheiratet und lebt als freie Autorin in Berlin