Tief im bösen Wald

In Nigeria herrschen noch immer die alten Götter. 50 Prozent der Menschen sind Christen, 50 Prozent Muslime – und 100 Prozent glauben an die Tradition. Ein Besuch im heiligen Schrein

AUS OKIJA HAKEEM JIMO

„Der Herr ist mein Helfer, ich fürchte mich nicht. Was können Menschen mir antun?“ Der neutestamentliche Bibelspruch (Brief an die Hebräer, 13/6) steht mit Kreide geschrieben am Haus von Ndihika Maduka. Der Mittfünfziger gibt sich als anständiger Christ und Anglikaner. Aber dann wechselt er aus dem Englischen ins Igbo. Im nächsten Atemzug schüttet Ndihika Maduka Gin auf den Boden und zollt den Vorfahren Respekt. Er spricht über seinen Nachbarn: den Gott Ogwugwu-Akpu. Von seinem Grundstück kann Maduka das Haus von Ogwugwu-Akpu sehen, den bösen Wald von Ubahuezike.

Der Eingang zum bösen Wald wirkt unauffällig. Bis an seine Grenze haben die Bauern aus dem Dorf Felder mit Maniok und Yamwurzeln angebaut. Sie brauchen Platz zum Anbau von Nahrungsmitteln und sie benötigen Feuerholz. Gerade deshalb sticht der böse Wald von Ogwugwu-Akpu aus seiner Umgebung heraus.

Schuhe sind nicht erlaubt im bösen Wald. Mit nackten Füßen geht es in den warmen, schlammigen Waldboden. Einer aus der Gruppe gibt vor dem Eintreten einem Zurückbleibenden ein kleines Büchlein mit dem Bild der Heiligen Jungfrau Maria. Ein schmaler Pfad führt ins Innere des Waldes. Die hohen Bäume lassen kaum Licht durch.

Alles Geld den Göttern

Für viele Igbos ist Ogwugwu-Akpu der mächtigste aller Götter. Gleich im angrenzenden Nachbardorf steht die heilige Stätte von Ogwugwu-Isiula, einem anderen Gott der Igbos, der auch weit über die Grenzen der ostnigerianischen Volksgruppe bekannt ist. Die heiligen Stätten dieser beiden Gottheiten befinden sich in Okija, dem zweitgrößten Ort des Bezirks Ihiala im Bundesstaat Anambra.

Beide kamen Anfang August in die Schlagzeilen, als die Polizei die beiden Schreine besetzte und rund 80 Leichen fand. Das erregte Aufsehen weit über Nigerias Grenzen hinaus. Wieder einmal schien das Klischee vom grausamen dunklen Afrika bestätigt.

Schon nach wenigen Schritten in den Wald liegt Unrat am Wegesrand, wie kleine Haufen Sperrmüll: alte Töpfe, Kleider, Uhren, Schmuck, Schuhe, sogar Möbel. Dann teilt sich der Weg. Mit erhobenen Händen geht man tiefer in den Wald hinein – als Zeichen, dass man ohne böse Absicht kommt. Ab und zu schnalzt einer aus der Gruppe mit der Zunge. So, als suche er eine verlorene Katze. Oder als wolle er Ogwugwu-Akpu seine Ankunft bekannt machen.

An der Wegkreuzung liegt ein Haufen Federn. Durch den vielen Regen sind sie modrig geworden. Dazwischen finden sich Geldscheine. Hier grüßen und verabschieden Besucher sich von Ogwugwu-Akpu, dem Herrscher dieses Waldes. Um dem Gott Anerkennung zu zeigen, sollte man eine Spende bringen – meistens ist es Geld. Bevor die Scheine zu den Federn geworfen werden, umkreisen sie dreimal mit der rechten Hand den Kopf im Uhrzeigersinn.

Schon von hier zeigt sich, was die Polizisten bei ihrer Razzia in Angst und Schrecken versetzte. Alle paar Meter säumen offene Särge den Weg. Die Deckel sind abgenommen und ins Gebüsch gelegt. Die Leichen sind ordentlich gekleidet für die letzte Reise. Einige sind mumifiziert. Richtig frisch ist keine von ihnen. Vielleicht kamen sie vor einigen Wochen. In diesem Teil des Schreins liegen die Leichen in Särgen. Im anderen Teil sollen sie auch an den Bäumen hängen.

Es ist feucht und heiß. Normalerweise müsste ein Verwesungsgestank einem die Augen zum Tränen bringen und die Kehle zuschnüren. Aber die Nase rümpft sich kein bisschen. Genau das verwunderte auch die Polizisten, als sie den Schrein entdeckten. Warum stinkt es hier nicht?

Vielleicht kommt eine Antwort von den Forensikern, die einige der Leichen mitgenommen haben. Die Antwort des Hohepriesters wirft mehr Fragen als Antworten auf. „Nur die Götter wissen, warum die Leichen nicht verwesen“, sagt Okonkwo Chukwuneta.

Okonkwo Chukwuneta ist der höchste der Priester des Ogwugwu-Akpu-Schreins. Sein Name bedeutet übersetzt: „Lass Gott das Beste sehen“. Er sagt, er sei hier überhaupt der Älteste von den Alten: ungefähr 130 Jahre alt. Der Hohepriester vom Nachbarschrein, Ezekie Ogwugwu, sei sein Junior. Beide können seit ihrer Geburt nicht sehen. Deshalb wurden sie Hohepriester. So sehen es die Regeln vor.

Warum wurden die Leichen nicht begraben? Chukwuneta sagt, dass die Leute, die in den bösen Wald geführt werden, um einen Schwur zu leisten, sehen sollen, dass man mit Ogwugwu-Akpu nicht spaßen kann. Früher hatten sie die Leichen begraben. Und um die Regierung nach den Polizeirazzien zu besänftigen, wolle man es jetzt auch wieder tun, sagt Chwukwuneta.

Im Vorhof des Hauses von Okonkwo Chukwuneta hält der Priester Gericht. Von der Dorfstraße weist ein Schild dorthin. Meistens geht es darum, dass jemand einen anderen des Diebstahls bezichtigt oder einen Diebstahl von vornherein per Schwur verhindern will.

Wenn der Ankläger zum Schreingericht geht, lädt der Priester den Beschuldigten zu einer gemeinsamen Sitzung ein, um das Problem zu klären. Sollte der Beschuldigte nicht kommen, wird das als Schuldeingeständnis gesehen. Dann entscheidet sofort Ogwugwu über dessen Schicksal. Sind beide Parteien bei der Verhandlung und kommt es zu keiner sofortigen Einigung, dann müssen sie einen Schwur ableisten. Derjenige mit unreinem Gewissen wird sterben.

Die Toten sind tabu

Alle Leichen im bösen Wald seien die von Menschen, die nach einer gewissen Zeit nach dem Schwur gestorben seien, erklärt Okonkwo Chukwuneta. Automatisch gehen die Angehörigen davon aus, dass Ogwugwu für den Tod verantwortlich und insofern der Verstorbene der Übeltäter war. Der Tod ist Schuldbeweis, und der Tote ist daher ein Tabu. Er kann nicht auf einem Friedhof oder auf dem Hausgrundstück beerdigt werden. Er muss in den bösen Wald gebracht werden. So haben es auch die Priester bei der Zeremonie des Schwurs verlangt.

Aber diese Geschichte endet hier nicht. So wäre ja alles einfach exotisch, das folkloristische traditionelle Afrika. Aber das hier ist Nigeria im 21. Jahrhundert. Es geht um Geld, um viel Geld. Alles Hab und Gut des Verstorbenen muss Ogwugwu für den Reinigungsprozess übergeben und zum Schrein gebracht werden. Der Hausrat ist nur ein Teil. Die Witwe eines notorischen Räubers soll dem Schrein umgerechnet rund eine halbe Million Euro gegeben haben. Tatsächlich stehen in dem Dorf unverhältnismäßig prachtvolle Bauten.

Aber auch das ist noch nicht alles. Einige der Leichen sind nicht intakt. Hier und da fehlt ein Kopf, eine Hand, sogar Geschlechtsteile. Menschliche Körperteile gelten in vielen Teilen Nigerias und auch in anderen Ländern Afrikas als unersetzliche Zutat für besonders starke Medizin. Deshalb gibt es auch immer wieder Berichte von Serienmorden, bei denen den Leichen Körperteile fehlten: Ritualmorde.

Dass es sich auch bei den Leichen der Okija-Schreine um Ritualmorde handelt, ist bislang reine Vermutung. Die Schreinpriester streiten es vehement ab. Dutzende ihrer Anhänger wurden aber bereits verhaftet. Und jetzt geht es darum, wer die Orakel konsultiert hat.

Die Priester der Schreine von Okija führten ein Register. Seine Veröffentlichung ist wie das Bekanntwerden der Namen aus dem Adressbuch eines Call-Girl-Rings. Tagtäglich kommen neue Namen von prominenten Nigerianern bis in höchste politische und wirtschaftliche Kreise in die Presse. Schlagzeilen machte ein anglikanischer Bischof. Besorgte Nigerianer fragen nun, ob der Kult von Okija eine Art Geheimbund prominenter Igbos war, mit politischem Einfluss. Es ist typisch nigerianisch, dass alles politisiert und ethnisiert wird.

Aber die Ratsuchenden kamen nicht nur aus dem Igbo-Land, und auch andere Regionen Nigerias haben Schreine. Es geht um den Stellenwert der traditionellen afrikanischen Religionen in Nigeria, das sonst eher wegen der Konflikte zwischen Christen und Muslimen Schlagzeilen macht. Seit der Ankunft der islamischen und christlichen Prediger werden die alten Religionen verteufelt. Bestenfalls werden die traditionellen Religionen verbal verurteilt – schlimmstenfalls werden sie zerstört. Der böse Wald von Okija ist von unbekannten Tätern angezündet worden.

Wole Soyinka, Nigerias bekanntester Schriftsteller, verglich die Pogrome an Kultstätten von Traditionalisten in Nigeria mit der Sprengung der Buddha-Statuen in Afghanistan durch die Taliban. Dabei seien die Vorfälle in Nigeria schlimmer, so Soyinka, da keiner sich darüber aufrege. Kaum ein Nigerianer bekennt sich öffentlich zu den alten Göttern. Ein Bundesminister überraschte die Nigerianer, als er seinen Amtseid auf den Gott Shango ablegte – ein Donnergott, ähnlich wie Zeus oder Thor. Die Regel ist aber, dass Leute nach außen vorgeben, Christen oder Muslime zu sein – aber innerlich vertrauen sie ihre Hoffnungen und Ängste weiter den alten Göttern an. Ganz getreu der ironischen Antwort auf die Frage nach der Zusammensetzung der Religionen in Nigeria: 50 Prozent Christen, 50 Muslime, 100 Prozent Traditionalisten.