REFORMEN IN RUSSLAND: PUTIN REISST DAS LAND IN DEN ABGRUND
: Törichter Regierender

Mit einschneidenden Veränderungen des Staatsaufbaus antwortet der Kreml auf die vermeintliche Bedrohung durch internationalen Terrorismus. Die Eingriffe werden das vor zwanzig Jahren in Angriff genommene Projekt, Russland zu modernisieren, endgültig unter sich begraben. Die letzten – ohnehin schwachen – Zitadellen politischer und struktureller Eigenständigkeit werden geschleift.

Putin nennt es Stärkung der „Machtvertikale“. Vor fünf Jahren war der Kremlchef mit diesem Konzept angetreten. Das Ergebnis ist katastrophal: Es gibt keine unabhängigen demokratischen Institutionen mehr, doch ist dies nur ein Nebenaspekt. Schwerer wiegt, Putins Reich ist so instabil wie nie zuvor. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR war das Leben der Bürger nie gefährdeter als heute, da Korruption auf allen Ebenen zur Staatsidee avancierte. Russland hat keine visionäre Perspektive mehr. Einsam steuert der Kreml das Land in die unverstandene Geschichte zurück.

Wenn das Geiseldrama von Beslan eine Lektion erteilt hat, so ist es die: Die Vertikale der Macht hat versagt. Sie selbst ist zur Quelle des Übels und der Instabilität geworden. Konzentration der Macht, Selbstisolation des Kremls und Myriaden von willfährigen Bütteln, die dem ratlosen Autokraten einen künstlichen Entwurf der Wirklichkeit präsentieren, treiben das Land in Richtung Abgrund. Statt eine schonungslose Analyse vorzunehmen, wehrt sich die politische Elite gegen Selbstkritik und gesellschaftlichen Dialog. Zu Einsicht ist sie nicht fähig. Der Ausbau der Befehlsvertikale dient denn auch nur dem eigenen Machterhalt.

Doch das ist trügerisch. Die Stabilität der Autokratie beruht darauf, dass sie dem politischen Tagesgeschäft entzogen ist. Die Gefahr der Selbstisolierung wächst, das Machtzentrum verkommt mehr und mehr zu einem Totem. Rückkopplungen zwischen Gesellschaft und Staat, Bürokratie und Kreml finden immer seltener statt.

Dies Phänomen zieht sich durch Russlands 1.000-jährige Geschichte. Vor hundert Jahren riss es die Monarchie in den Abgrund, vor zwei Jahrzehnten das Politbüro der KPdSU. Nun ist Wladimir Putin an der Reihe – und er droht Russland mitzureißen. KLAUS-HELGE DONATH