Fundamental verunsichert

Einer, dem nach dem 11. September die Welt auseinander fiel: Art Spiegelman zeichnet und collagiert die Bruchstücke des zerborstenen World Trade Center – der neue Comic „In the Shadow of no Towers“

VON SEBASTIAN MOLL

Als im Frühjahr 2003 in Manhattan die Entwürfe für eine Gedenkstätte am Ground Zero ausgestellt wurden, gehörte Art Spiegelman zu den wenigen Stimmen, die einen solchen Wettbewerb für verfrüht hielten. Es sei völlig unmöglich, so der Erschaffer von „Maus“ – dem Holocaust-Comic, der den Pulitzer-Preis gewann –, überhaupt zu wissen, wessen man denn am Ground Zero gedenken solle: Das Ereignis werde sich wohl noch auf lange Sicht der Historisierung entziehen.

Um die Geschichte seiner Familie – von den Nazis verfolgte Juden aus Warschau – im Wortsinn aufzuzeichnen, hatte sich Spiegelman 13 Jahre sowie den Abstand von beinahe 50 Jahren Zeit genommen. Umso verwunderlicher scheint es, dass Spiegelman schon jetzt, drei Jahre nach dem Anschlag, ein Buch zu jenem Tag im Jahr 2001 vorlegt, an dem, wie er schreibt, „sich die Linien der persönlichen Geschichte und der Weltgeschichte kreuzten“ – jene Art von Kreuzung, vor der seine Eltern, beide Überlebende von Auschwitz, Spiegelman stets eindringlich gewarnt hatten.

Spiegelman hat mit „Maus“ gezeigt, dass man nach Auschwitz vielleicht keine Gedichte mehr schreiben kann, sehr wohl jedoch Comics zeichnen. Mit „In the Shadow of no Towers“ zeigt er nun, dass das auch nach dem 11. September noch geht; der Band erzählt, wie am 11. September die Welt, wie Art Spiegelman sie kannte, auseinander fiel und wie sie sich nie mehr zusammensetzte. Spiegelman zeichnet sich etwa als eines der Opfer, die aus dem lodernden World Trade Center stürzten – und er stürzt und stürzt und stürzt. Er porträtiert sich selbst als paranoid und lässt sich Dinge sagen wie: „Vielleicht möchte ich ja, dass die Welt zu Ende geht, vielleicht ist es aber nur meine eigene kleine Welt, die zu Ende gegangen ist. Aber dann schaue ich in die Nachrichten und weiß, dass die Welt zu Ende geht. Ich bin nach dem 11. September in einer anderen Wirklichkeit aufgewacht, einer Wirklichkeit, in der George Bush Präsident ist.“

Art Spiegelman ist die Welt, wie er sie kannte, vor den Augen zerfallen, und er traut sich nicht, das Puzzle der Bruchstücke zusammenzusetzen. Sein Buch ist keine Geschichte, sondern eine Ansammlung von Tableaus. Es ist eine Mappe zum Betrachten, und das Kinderbuchformat einschließlich der Seiten in Pappdeckelstärke unterstreicht, dass das Werk dem zeitlichen und räumlichen Nacheinander widersteht. Die Mappe öffnet sich zu hochformatigen Doppelseiten, auf denen jeweils eine Collage aus verschiedenen Stilen und Stimmen eine Momentaufnahme des Lebens nach dem 11. September darstellt. Spiegelman erscheint darin mal als er selbst, mal als Maus, mal als Figur aus einem Comic der Dreißigerjahre.

Man kann die Seiten anschauen wie Zeitungsseiten, die ebenfalls jeweils eine Kakofonie von Stimmen und Bildern beherbergen. Und das ist auch so beabsichtigt. Schon auf dem zweiten Bilderbogen sieht man Spiegelman, dort als Maus, über seinem Schreibtisch schlummern, während rechts von ihm George Bush mit dem Revolver fuchtelt und links von ihm Ussama Bin Laden mit dem blutigen Säbel rasselt. „Von seiner eigenen Regierung und von al-Qaida gleichermaßen terrorisiert, studiert unser Held einige uralte Comicseiten und döst darüber ein.“ Diesen uralten Comicseiten widmet Spiegelman den letzten Teil seines wunderschönen Buches – es sind die Comics, welche die New Yorker Zeitungsmoguln William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer um 1900 herum samt dem Farbdruck in ihren Sonntagsausgaben einführten, um sich gegenseitig die Leser abspenstig zu machen. Eine wundervolle Zeit, schwelgt Spiegelman, der Comic hatte noch nicht seine Form gefunden und das Experimentieren trieb die herrlichsten Blüten. Und so sind die letzten sechs Tableaus des Buches Reproduktionen damaliger Comics aus Spiegelmans Hand.

Eskapismus aus einer Wirklichkeit, die nicht zu bewältigen ist? Nein, so möchte Spiegelman seine Nostalgie mitnichten verstanden wissen. Seinen Lieblingscomic „Krazy Kat“ von 1936 kommentiert er etwa: „Man konnte ihn als alles Mögliche lesen, von politischer Allegorie bis hin zu psychosexuellem Drama. Es war eine völlig offene Metapher, die alle Geschichten zugleich enthielt.“ Spiegelmann ist vom 11. September fundamental verunsichert – während der Rest der Kunstwelt zur politischen Botschaft tendiert, entdeckt der einstige Geschichtenerzähler das Unbestimmte. Während anderswo das Eindeutige wieder Konjunktur hat, verfällt Spiegelman in den postmodernen Gestus der Polyfonie. Nicht programmatisch, sondern einfach so – als persönliche Entwicklung eines Intellektuellen, der die Welt nicht mehr versteht. Und der sich weigert, wie so viele in diesen Zeiten, vorschnell Urteile zu fällen.

Art Spiegelman: „In the Shadow of no Towers“. Pantheon, New York 2004, 19,95 $