Nichts ist so sexy wie Politik

Nach Jahren des politischen Tiefschlafs sind die amerikanischen Künstler erwacht und beginnen sich zu engagieren. Kaum jemand glaubt abseits der Kunstprojekte stehen zu können, die versuchen, die Wiederwahl George W. Bushs zu verhindern

Die Ästhetisierung der Politik durch die Rechte wird mit der Politisierung der Ästhetik durch die Linke beantwortet

VON SEBASTIAN MOLL

Erik Stowers und seine Freunde hätten sich nie träumen lassen, dass sie einmal Parteipolitik machen würden. Die Spiele der Etablierten und Mächtigen und die Mentalität, die dazu gehört, waren genau das, was sie eigentlich hinter sich lassen wollten, als sie sich für die Subkultur der New Yorker Bohemien-Viertel Lower East Side und Williamsburg entschieden. Erik hatte Archäologie studiert, schrieb Romane und Gedichte und jobbte bei den „Avenging Angels“, einer Agentur, die PR für alternative politische Gruppen machte. Michael Bullock, sein Mitbewohner in einem besetzten Haus am stillgelegten Marinedock in Brooklyn, betrieb eine Galerie an der Lower East Side, ihr Freund Benjamin Liu produzierte Konzerte und Kunstevents.

Doch mit der Invasion des Irak im Jahr 2003 wurden die Diskussionen im Freundeskreis von Stowers, Bullock und Liu zunehmend politischer und dringlicher. „Es war einfach ein Schock für uns alle“, sagt der knabenhaft wirkende, etwas schüchterne 31-Jährige, während er auf einem Flohmarktsofa des Szenecafés Fix in Brooklyn an einem Eiskaffee schlürft, „dass die Dinge so schnell so schlimm werden können. Selbst unter Reagan hatte man immer noch das Gefühl, dass im Großen und Ganzen alles okay ist. Mit Bush bekam man aber plötzlich Angst.“

Sehr schnell drehten sich die Diskussionen in jener Werftarbeiterwohnung in Brooklyn darum, was man tun kann. „Wir haben überlegt, was unsere Ressourcen sind“, sagt Benjamin Liu, ein Taiwanese, der auf Zypern aufgewachsen ist. „Das waren unsere Kontakte in der Kunstwelt und unsere Kreativität.“ Um diese Ressourcen für ein politisches Ziel einzusetzen, gründete die Gruppe „Downtown for Democracy“ von der Rechtsform her ein Political Action Committee – eine unabhängige politische Organisation. „Das erlaubte es uns, politisch einzugreifen, ohne dass wir uns mit traditionellen politischen Institutionen auseinander setzen mussten“, so Stowers, der jetzt der einzige Vollzeitaktivist im winzigen Brooklyner Einzimmerbüro von D 4 D ist. D 4 D organisierte Lesungen, Kunstauktionen und Straßenfeste und sammelte damit bislang mehr als eine halbe Million Dollar für den demokratischen Wahlkampf.

Für ihre Aktionen gewann die Gruppe so große Namen wie die Schriftsteller Paul Auster und Jonathan Safran Foer oder die Künstler Richard Prince und Donald Bachelor. Darüber, wie leicht ihnen das fiel, waren Stowers und seine Genossen selbst ein wenig verblüfft. Und seit ihre Aktionen publik geworden sind, rennen ihnen die Künstler aus dem ganzen Land geradezu das winzige Einzimmerbüro in Brooklyn ein: „Wir bekommen Anrufe aus Austin und Los Angeles und sonst woher von Leuten, die eine Aktion zu unseren Gunsten machen wollen“, sagt Stowers, „das ist so viel geworden, dass wir das alles im Moment gar nicht bewältigen können.“ Politik ist schick geworden unter amerikanischen Künstlern: „Es gibt nichts, was im Moment so sexy ist wie die Politik“, sagt Heather Grayson, die Bühnenschriftstellerin, die ihre Erfahrungen als Soldatin im ersten Golfkrieg zu einem erfolgreichen Bühnenstück verarbeitet hat.

Der Wahlkampf hat die Künste in den USA auf die Barrikaden gebracht. Noch bei der Biennale des Whitney Museum in diesem Frühjahr, die ja einen Querschnitt durch die amerikanische Kunst zeigen sollte, bemängelten Kritiker, dass die amerikanische Kunst erschreckend unpolitisch sei: „Die Mehrheit dessen, was gezeigt wird, ist im Vergleich zur sozial engagierten Kunst, die international derzeit dominiert, ziemlich vom politischen Geschehen losgelöst“, kritisierte Scott Rothkopf in Art Forum. Im politischen Herbst des Jahres 2004 bessert das Whitney jedoch nach: Es stellt sich der Saison mit der Schau „Memorials of War“, in der über Formen des Gedenkens reflektiert wird, so wie mit einer Retrospektive von Dokumentarfilmen über politischen Protest von 1965 bis 2004.

Spätestens der 115-Millionen-Dollar-Erfolg von Michael Moore hat die Dämme gebrochen. Die Organisation Arts PAC, das finanziell potentere, aber leisere Vorbild für Downtown for Democracy, das vor allem aus dem New Yorker Kunstsammler Ron Feldman besteht, hat so prominente Namen wie Cindy Sherman und Matthew Barney dazu gebracht, ihre Kunst zugunsten des demokratischen Wahlkampfes zu versteigern. Ricard Serra produzierte jüngst für die Aktivisten-Gruppe Please Vote ein Anti-Bush-Plakat, das auch auf dem Titel der linken Wochenzeitung The Nation zu sehen war.

Der Schriftsteller Nicholson Baker machte seiner politischen Ohnmacht in seiner Novelle „Checkpoint“ Luft, in der unmissverständlich über die Ermordung von George Bush geredet wird. Die Rock- und Pop-Stars Bruce Springsteen, die Dixie Chicks, R. E. M. und Dave Matthews touren bis zur Wahl durch die so genannten Swing States – jene Bundesstaaten, in denen ein besonders knappes Walergebnis erwartet wird. Die Botschaft der Tour ist eindeutig: Sie nennt sich „Vote for Change“. E. L. Doctorow schrieb jüngst ein flammendes, an die Regierung gerichtetes J’accuse, das bis November im New Yorker Symphony Space am Broadway von der politischen Kabarett-Truppe Thalia Follies verlesen wird.

Während des republikanischen Wahlparteitags in New York fühlte man sich unweigerlich an das berühmte Ende von Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz erinnert, in dem er beschreibt, wie die Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus mit der Politisierung der Ästhetik durch die Linke beantwortet wird. Als Reaktion auf das rechte Polit-Spektakel im Madison Square Garden, einer furchterregenden Selbstinszenierung des konservativen Amerikas, verwandelte sich die Stadt für eine Woche in eine einzige Schaubühne für Aktionskunst.

Kaum jemand aus der New Yorker Kunstszene stand abseits, nur wenige verließen wie etwa Jonathan Franzen angewidert die Stadt. Protestkunst und Protest gingen ineinander über: Die schwarze Performance-Poetin Sapphire etwa trug in der St. Marks Church im East Village – wo schon Jack Kerouac und Allen Ginsberg gelesen hatten – einfach die zumeist überaus gewitzten Texte der Banner und Transparente vor, die sie beim großen Protestmarsch am 29. August gesehen hatte. Die bis in den letzten Winkel gefüllte Kirche – ein für die Dichtkunst selbst in New York außergewöhnlich großes Publikum – jubelte begeistert.

Von einer neuen politischen Ästhetik in der amerikanischen Kunst zu sprechen ist indes noch verfrüht – die Kunst ist gerade erst dabei, sich überhaupt gegenüber dem Politischen zu öffnen. So ist es auch neben dem Sturz von George Bush das erklärte Ziel von Downtown for Democracy, Kunst und Politik wieder zueinander zu bringen. „Es ist unser Ehrgeiz, Veranstaltungen zu organisieren, zu denen die Leute auch gehen würden, wenn sie nicht politisch motiviert wären. Wir wollen die Politik in das Leben der Leute integrieren“, sagt Benjamin Liu. Wie etwa bei dem Straßenfest, das Liu derzeit während der Kunst-Hochsaison im September mitten im Galerieviertel Chelsea organisiert und für das er rund 25 Künstler zum Teil prominente Künstler gewonnen hat. Jeder Künstler bekommt einen Stand, mit dem er tun kann, was er will. „Das wird Aktionskunst im öffentlichen Raum, und das Ganze mit viel Humor und Leichtigkeit.“ Wie auch schon die Zusammenarbeit mit zwei bekannten New Yorkern Designern: Der Modeschöpfer Marc Jacobs ließ die Schaufenster seiner Boutique im Greenwich Village mit Spielkarten auslegen, auf denen Dick Cheney, Condoleezza Rice und George Bush abgebildet waren. Darunter sind im Stil von Michael Moore boshaft entlarvende Zitate dieser Regierungsmitglieder zu lesen. Und der Innenarchitekt Steven Scarloff gestaltete für D 4 D das Oval Office neu – das Ergebnis wurde zugunsten des Wahlkampfes versteigert.

Stowers möchte mit D 4 D explizit die starke amerikanische Tradition politischer Kunst wieder beleben. „In jeder Krisenzeit der amerikanischen Geschichte hat die Kunst eine große Rolle gespielt – während der Progressiven Ära um die Wende zum 20. Jahrhundert, während der 30er-Jahre und auch in den 60er-Jahren.“ Leider, so Stowers, hätten sich seither die Bereiche Kunst und Politik institutionell auseinander entwickelt: „Deshalb wollen wir – anstatt uns zu entfremden und durch die politischen Institutionen zu gehen – neue Institutionen schaffen, in denen man Politik und Kultur als integrale Bestandteile seiner Persönlichkeit erleben kann.“

Dass die amerikanische Kunst dank George Bush ihre politische Ader entdeckt, versetzt sie indes in einen eigenartig ambivalenten Gefühlszustand. Als die East-Village-Dichterin Marie Ponsot, die am selben Ort bereits Allen Ginsberg, Jack Kerouac und Jean Genet erlebt hatte, bei der großen Lesung während des Konvents vor die voll gepackte St. Marks Church trat, entfuhr ihr beglückt: „Das ist der Himmel.“ Dass eine gemeinsame Sache die liberalen Kreativen durch alle Schichten und Generationen mobilisiert, hatte sie seit dreißig Jahren so nicht mehr erlebt. Gleichzeitig hoffte sie, „dass deren Agenda uns nicht dazu zwingt, unsere Solidarität zu vertiefen“. Robert Polito, der unmittelbar nach Ponsot las, befürchtete jedoch genau das: „Ich muss daran erinnern, dass die Wahl vermutlich verdammt knapp wird. Ich fürchte, das hier ist erst der Anfang.“

Aus der Perspektive der Kunst möchte man sich das beinahe wünschen – so viel Anfang war schon lange nicht mehr. Doch so weit geht die Liebe zur Kunst nicht, nicht einmal bei denen, die sie schaffen.