Humboldt is coming home

Niemand in Deutschland hat vor ihm oder nach ihm größeren Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaft ausgeübt als Alexander von Humboldt. Nun präsentiert ihn das große Humboldt-Projekt – als guten Deutschen

Ein Kosmopolit, beseelt von einer „ächten Liebe zum Naturstudium“

VON JÜRGEN BUSCHE

Es scheint an der Zeit zu sein, den guten Deutschen zu finden. Erfinden muss man ihn nicht. „Deutschland hat der Welt viel zu bieten“, heißt es mehr tröstlich als selbstbewusst zu Beginn der neuen Ausgabe von Alexander von Humboldts „Kosmos“, aber, so fährt der Verfasser der Vorbemerkung zu dem tausendseitigen Monstrum fort, „es fehlt ihm an großen Namen“. Drei werden sogleich genannt: Goethe, Marx, Einstein.

Es könnten auch wohl mehr sein. Also ist das nicht ohne Signifikanz. Darf man in dem Herausgeber zwar nicht dieser „Kosmos“-Ausgabe, sondern der sie aufnehmenden Anderen Bibliothek des Eichborn-Verlages, darf man also in Hans Magnus Enzensberger den ungenannten Autor der Vorbemerkung vermuten?

Goethe versteht sich von selbst. Einstein war der letzte der vom preußischen Staat ohne weitere Lehrverpflichtungen als Akademiker großzügig alimentierten Wissenschaftler, deren glanzvollster eben Alexander von Humboldt gewesen war. Marx aber war ein Stern erster Ordnung vom Himmel der Genies des 19. Jahrhunderts, als Enzensberger 1967 in seinem Kursbuch für die sozialistische Weltrevolution warb.

Damals, 1967, dem Jahr des Ausbruchs der Studentenrevolte in Deutschland, in der man den letzten Versuch gesehen hat, die Gesellschaft von den Einsichten der Geisteswissenschaften her zu verändern, erschien als Nummer 131 der Reihe Rowohlts Monografien der Band über Alexander von Humboldt, geschrieben von dem vorzüglichen Adolf Meyer-Abich. Da steht schon alles drin, was heute dem bewundernswerten, global agierenden Naturforscher aus Berlin-Tegel – mit bevorzugtem Wohnsitz in Paris – nachgerühmt wird. Das knapp 190 Seiten umfassende Büchlein erreichte mit dem 21. Jahrhundert seine 15. Auflage.

Dennoch markiert sein Erscheinungsjahr ein Datum, das nicht ohne Ironie ist. 1967 war das Jahr, in dem sich der Geburtstag Wilhelm von Humboldts zum 200. Mal jährte. Alexander kam erst zwei Jahre später. Hatten wieder einmal die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften die Termine diktiert? Wilhelm von Humboldt war es gewesen, der den Deutschen nicht nur die Universität neuen Typs samt angeschlossenem Bildungsmodell bescherte, er hatte ihnen auch die weit tragende Überzeugung eingeimpft, nur sie könnten im künftigen Europa die kongenialen Nachfolger der über alles verehrten Griechen sein. Dazu hatte sein Freund Schiller das vielstrophige Gedicht über die „Götter Griechenlands“ geschrieben. Wer anders hätte es sonst schreiben können?

Schiller mochte den jüngeren Bruder Alexander von Humboldt nicht. Wohl aber mochte ihn Goethe. Mehr noch: Goethe war von dem jungen Mann begeistert, er sah in ihm Geist von seinem Geiste, einen Naturforscher nach dem Ideal, das er selber anstrebte. Er arbeitete mit ihm zusammen und pries ihn sein Leben lang in höchsten Tönen.

Von Friedrich Nietzsche stammt das melancholische Wort, Goethe sei in Deutschland ein Zwischenfall ohne Folgen. Die neue „Kosmos“-Ausgabe, aber auch die schönen Bücher, die der Eichborn-Verlag dazu ausliefert, zeigen, dass dies ein Irrtum war. In dem 20 Jahre jüngeren Alexander von Humboldt hatte Goethe einen ebenbürtigen Nachfolger – und er wusste dies, er freute sich darüber. Zu Nietzsches Wort muss man freilich bedenken, dass der Zögling von Schulpforta und Bonner Philologiestudent ein Mann des Griechenkults, der aggressiven Geisteswissenschaftler war, die sich just damals anschickten, den fast schon verlorenen Kampf gegen die performative Überlegenheit der Naturwissenschaftler aufzunehmen. Denn das war die Lage im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts: Allenthalben wurde von schöngeistigen Gelehrten beklagt, dass die deutschen Universitäten in den letzten Jahrzehnten sich radikal verändert hätten. Das von Wilhelm von Humboldt geförderte humanistische Bildungsideal befände sich auf dem Rückzug. Die Naturwissenschaft breitete ihre neue Herrschaft mit der Attraktivität ihrer Ergebnisse mächtig aus.

Es waren dies die Jahrzehnte, in denen die Bände des „Kosmos“ erschienen waren und Einzug in die Bücherschränke der Bildungsbürger hielten. Es lagen schon die Jahre zurück, in denen die humanistisch gesinnten Demokraten, desillusioniert aufgrund der gescheiterten Revolution von 1849, verstummten. Uhland noch hatte eine Aufnahme in den vom Preußenkönig gegründeten Orden „pour le merite“ aus politischer Überzeugung abgelehnt. Der Brief Alexanders an ihn, in dem er ihn vergeblich umzustimmen versuchte, gehört zu den schönsten Texten, die er je geschrieben hat. Und er hat viel geschrieben.

Was Alexander von Humboldt in den fünf Jahren seiner Reise durch den amerikanischen Kontinent zusammen mit seinem französischen Freund Bonpland 1799–1805 beobachtet und gemessen, gesammelt und geordnet hatte, war in den 20 Pariser Jahren von 1808 bis 1827 in 35 Bänden auf Französisch niedergeschrieben worden „Voyage aux regions equinoxiales du Nouveau Continent“. Wilhelm, der seinen Bruder schon früh mit Worten der Anerkennung und Bewunderung überhäuft hatte, befand, dass er es doch an Patriotismus fehlen lasse. Es war dies der Vorwurf, der auch gern Goethe gemacht wurde.

Gleichwohl diente Alexander seinen preußischen Königen durchaus intensiv und auf unterschiedliche Weise. Er war tätig in diplomatischen Missionen, aber er machte keinen Beruf daraus. Leicht hätte er der preußische Botschafter in Paris werden können, er wollte nicht. Und er wirkte in Berlin als inoffizieller Berater, Förderer und Begutachter bei wissenschaftlichen Karrieren. Niemand in Deutschland hat vor ihm oder nach ihm größeren Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaften ausgeübt als Alexander von Humboldt.

Die Könige dankten es ihm. Ein Beispiel: Alexander hatte fast sein ganzes ererbtes Vermögen für seine Reise und für die Herausgabe der Reiseberichte verbraucht. Dabei hatte er unabhängig sein wollen, und das war es ihm wert gewesen. Jetzt war er auf den Salär als Berliner Akademiker angewiesen und er geriet in Schulden.

Als er sich 1857, zwei Jahre vor seinem Tod, an König Friedrich Wilhelm IV. wandte, um eine Sonderzahlung von 6.000 Talern zu erbitten, rückte dieser umgehend mit der Summe heraus und schrieb an den 88-Jährigen: „Ich hätte nicht ruhig schlafen können in der Besorgnis, es möchte mir jemand zuvorkommen.“

Der Kosmopolit starb am 6. Mai 1859. Er wurde im Familiengrab im Park seines Schlosses in Tegel beigesetzt. Die Trauerfeier in Berlin war gewaltig. Aber damit war dann zunächst einmal auch Schluss mit der Verehrung. Es war die Zeit der Schillerfeiern, die in ebendiesem Jahr 1859 mit dem 100. Geburtstag Schillers Deutschland überschwemmten. Zwar hat man zumal in Nord- und Südamerika oft Gelegenheit gefunden, den Namen Alexander von Humboldts in Denkmälern und Namensgebungen zu feiern, in Deutschland jedoch war der Ertrag spärlich. Und so ist auch das nicht ohne Ironie, dass sich in diesen Wochen der Buchmarkt mit der alten Konkurrenz beschäftigen muss, die nun wohl das Humboldt-Projekt und zwei respektable Schiller-Biografien bekannter Autoren einander bereiten werden.

Zugleich aber entsteht in diesen Wochen – zu Recht – Aufregung über das Vorhaben des Hamburger Wissenschaftssenators, an der dortigen Universität die Hälfte der geisteswissenschaftlichen Stellen zu streichen. Wozu lehren – könnte man aus dem einstigen Überschwang Wilhelms heute resignierend anmerken –, was ohnehin kaum noch jemand versteht?!

Sicherlich, in Hamburg – und sehr bald ähnlich rigide anderswo in Deutschland – will man die Naturwissenschaften stärken. Indes: Mit deren Fortschritt in den vergangenen 100 Jahren ist auch das, was Alexander von Humboldt notierte und in der Zusammenschau vorstellte, auf die Seite der Geisteswissenschaften geraten. Er selbst hat das vorhergesehen. Am Ende seiner „Vorrede“ zum „Kosmos“-Werk schrieb er, dass „alles, was mit der Empirie, mit Ergründung von Naturerscheinungen und physischer Gesetze zusammenhängt, in wenigen Jahrzehenden, bei zunehmender Schärfe der Instrumente und allmäliger Erweitrung des Horizonts der Beobachtung, eine andere Gestaltung annimmt; ja, daß, wie man sich auszudrücken pflegt, veraltete naturwissenschaftliche Schriften als unlesbar der Vergessenheit übergeben sind.“ Aber, fuhr er gut goethisch fort, wer „von einer ächten Liebe zum Naturstudium und von der erhabenen Würde desselben beseelt ist, kann durch nichts entmuthigt werden, was an eine künftige Vervollkommnung des menschlichen Wissens erinnert“.

Enzensberger hatte vor mehr als 30 Jahren zum Entsetzen der Bildungsbürger Schillers „Glocke“ dem Vergessen überantworten wollen. Heute tritt er mit seinem Humboldt-Projekt hervor. Zumindest theatralisch hat solcher Wettkampf seine Schärfe verloren. Beide – was immer zwischen ihnen gewesen sein mag vor mehr als 200 Jahren – werden jetzt als gute Deutsche einem verzagten Volk präsentiert. Man hat so wenige davon. Man kann keinen entbehren.

Alexander von Humboldt: „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 960 Seiten, 90 Tafeln, 99 Euro. „Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas“. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 450 Seiten, 69 Tafeln, 69 Euro. „Ansichten der Natur“, Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 512 Seiten, 6 Tafeln, 33 Euro