Gewalt ist keine Frage von Bildung

Eine erste umfangreiche Studie liefert erschreckende Zahlen über die Misshandlung von Frauen. In der Hälfte der Fälle ist der eigene Partner der Täter. Aber auch Männer können Opfer sein. Familienministerin Schmidt will Notrufnummer einrichten

AUS BERLIN KARIN LOSERT

Von wegen trautes Heim: Jede vierte Frau wird im eigenen Zuhause Opfer von Gewalt. Ob Schläge oder sexueller Missbrauch – in rund der Hälfte der Fälle ist der Täter der eigene Partner. Zu diesem Ergebnis kommt die Untersuchung „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“, die Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) gestern in Berlin vorstellte. Die Befragung unter 10.000 Frauen liefert im Gegensatz zu früheren Schätzungen erstmals verlässliches Zahlenmaterial zum Thema Gewalt.

Und das ist erschreckend: 58 Prozent der befragten Frauen gaben an, bereits einmal sexuell belästigt worden zu sein, 37 Prozent haben in ihrem Leben schon körperliche Gewalt erlebt. 13 Prozent – und das ist immerhin jede siebte Frau – haben mindestens eine Vergewaltigung hinter sich. Ministerin Renate Schmidt warnte angesichts der Ergebnisse aber vor einer Überdramatisierung: „Wir leben nicht in einer Prügelrepublik.“ Gewalt in Deutschland sei kein zunehmendes Problem, erklärte Schmidt, „es wird nur heute offener darüber geredet“.

Häusliche Gewalt, und das ist das eigentlich erstaunliche Ergebnis der Studie, ist weder vom Bildungsstand noch von der Schichtzugehörigkeit abhängig. „Selbst Alkoholismus und Arbeitslosigkeit bieten keine ausreichende Erklärung“, so Monika Schröttle, Betreuerin der Studie.

Die Absicht, sich zu trennen, ist sehr häufig Auslöser von Gewalthandlungen seitens des Partners. Neben Frauen in Trennung und Scheidung gehören insbesondere Migrantinnen aus der Türkei und Osteuropa zu den Risikogruppen. Fast die Hälfte der Türkinnen ist zu Hause schwerer Gewalt ausgesetzt. Dabei werden sie nicht nur häufiger geschlagen oder sexuell missbraucht als deutsche Frauen, im Regelfall sind die Verletzungen auch schlimmer.

Für alle Betroffenen gilt: Schmerzen und blaue Flecken vergehen – was bleibt, sind die psychischen Folgen. Viele Frauen berichten von Schlafstörungen, erhöhten Ängsten, Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken, Selbstverletzung und Essstörungen. Wenn Frauen endlich den Mut fassen, über ihre Erlebnisse zu reden, sind Ärzte häufig die ersten Ansprechpartner.

Während Gewalt gegen Frauen mittlerweile ein viel beachtetes Thema ist, führt eine andere Opfergruppe ein Schattendasein. „Männer sehen sich häufig nicht als Opfer, sind es aber dennoch“, stellte Renate Schmidt fest. Deshalb widmete das Familienministerium auch dieser Gruppe eine Pilotstudie. „Ein Mann um die 20 hat eine größere Chance, Gewalt zu erleben, als eine Frau im gleichen Alter“, erklärte Sozialwissenschaftler und Studienleiter Hans-Joachim Lenz. Häufig werde die Gewalt jedoch heruntergespielt. „Es gilt immer noch der Grundsatz: Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“

Ein Großteil der körperlichen Misshandlungen von Männern findet nicht in den eigenen vier Wänden, sondern in der Öffentlichkeit statt, die Täter sind zumeist ebenfalls Männer. Aber immerhin jeder vierte Befragte erlebte Gewalt durch seine Partnerin. Zahlreiche Männer klagen über psychische Gewalt am Arbeitsplatz. Auf Grund der kleinen Datenbasis von 266 befragten Männern könne die Studie erste Tendenzen und Hinweise bieten, sei aber noch nicht repräsentativ, so Lenz.

Renate Schmidt kündigte an, dass die Bekämpfung von Gewalt weiterhin eines der vordringlichsten Ziele der Bundesregierung bleibe: „Wir dürfen nicht nachlassen.“ Als nächsten Schritt plant die Ministerin eine bundesweite Notrufnummer für Betroffene. Für die Übernahme der Kosten in Höhe von zwei bis drei Millionen Euro sucht Schmidt allerdings noch Sponsoren.