Schaufensterpuppen

Aus einem Schweizer Leben gibt es kein Entkommen. Auch nicht auf dem Theater. Lars-Ole Walburg bringt in Basel Max Frischs Roman „Stiller“ auf die Bühne. Im Gefängnis des Ichs bleibt nichts, als trotzig die Arme vor dem Bauch zu verschränken. Tja

VON DOROTHEA MARCUS

Kann man seiner Biografie entkommen? Bei jedem Fluchtversuch nimmt man sich jedenfalls selber mit. Fast schon eine Binsenweisheit, auf die sich „Stiller“, Max Frischs erster großer Roman – zwei Millionen verkaufte Exemplare, Schullektüre, in 25 Sprachen übersetzt – subsumieren lässt. Kurz darauf floh Frisch selbst aus seiner Biografie: Er verließ Frau, Kinder und sein Architekturbüro, um nur noch Schriftsteller zu sein.

Ein Architekt möchte ein Schriftsteller sein, der Schweizer Bildhauer Anatol Stiller möchte der Amerikaner James White sein. Ein Roman möchte ein Drama sein? Der Basler Schauspieldirektor Lars-Ole Walburg hat „Stiller“ 50 Jahre nach seinem Erscheinen dramatisiert. Doch in „Stiller“ geht es nicht nur um ein persönliches Leben, sondern um die Parabel einer begrenzten Schweiz. In Max Frischs Schweiz, jenem „Gefängnis“, in dem jeder sein eigener Gefängniswärter ist, um sich gerade damit seine eigene Freiheit zu beweisen (so formulierte es einst Friedrich Dürrenmatt), ist der Ausbruch aus sich selbst erst recht nicht möglich. Und deshalb macht Lars-Ole Walburg den steten Schweizbezug auch zur pflichtschuldigen Grundlage seiner Dramatisierung – und das ist ein entscheidender Fehler.

Die Schweiz im Schauspielhaus Basel ist eine Spanplatte, mit ausgesägten halben Kreuzlöchern, in denen die Protagonisten feststecken bis zum Bauch. Ein Spielzeugkasten, dieses Land, drapiert mit Umzugskartons, aus denen Stillers halbherzige Skulpturen – substanzlose Gebilde aus Plastikfolie – ragen, darüber schwankt übermächtig ein Hodler’sches Alpenpanorama (Bühne: Hugo Gretler). Und bevor noch Stiller (Michael Neuenschwander) jenen berühmten Anfangssatz: „Ich bin nicht Stiller!“ in die Welt rufen kann, bricht er in rhythmisierte Hasstiraden auf jenes Land mit seiner „beklemmenden Hinlänglichkeit“ aus. Es gibt aus einem kartografierten, archivierten Schweizer Leben kein Entkommen: Wie Aufziehpuppen tauchen die Figuren aus Stillers Vergangenheit auf, um ihn mit Erinnerungen zu überfallen. Ihm bleibt im Gefängnis des Ichs nichts, als trotzig die Arme vor dem Bauch zu verschränken und reflexhaft zu wiederholen, dass er ein anderer ist – doch das ist auf dem Theater ohnehin von Anfang an klar.

Staatsanwalt Rolf (Christoph Müller), seine Frau und Stillers Exgeliebte Sibylle (Susanne Abelein), der schmierige Verteidiger (Martin Hug) teilen im Partysmalltalk Romanbruchstücke unter sich auf, nur Ehefrau Julika (Katja Reinke) hangelt sich elfengleich auf den Armen der Männer durch die Sperrholzlandschaft, fast schon nicht mehr von dieser Welt. Als sie nochmals aus Paris anreist, um ihren Ehemann zu inspizieren, wird die starre Figurenanordnung kurz durchbrochen. Innig, vor einem Blumenkasten, lesen sich Julika und Stiller ihren Zürichspaziergang aus dem Buch vor, auf dem sie sich neu verliebten – eine ironische Referenz auf die Unmöglichkeit, 500 Seiten in zwei Stunden angemessen auf die Bühne zu bringen. Denn es funktioniert tatsächlich nicht.

Im Roman schält sich in spannungsvoller Ungewissheit nach und nach die utopische Oberfläche des vermeintlichen Abenteurers White ab, bis immer mehr Stiller hervorkommt. Auf der Bühne sind die Figuren in ermüdender Gleichzeitigkeit jedoch stets präsent. Das mag zwar ein stimmiges Bild sein für Stillers Erinnerungsstruktur. Doch der lockere Erzählton der Schauspieler verliert jenes ironische, nüchterne und gleichzeitig wehmütige Schillern zwischen Wunsch und Wahrheit, das den Roman so großartig macht.

Das, was im Buch als Stiller-Whites Zufluchtsort „Mexiko“ als Utopie aufscheint, ist auf der Bühne mit Plastikkaktus und Cowboyhut zum Klischee geworden. Einmal sitzt Julika, die tuberkulöse Tänzerin, im leisen Schneeflug und spielt sich die Trennungsgespräche, die sie mit Stiller führte, auf dem Tonband vor. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, sagt sie zum Bildnis von Stillers Stimme – doch ihre Worte wirken, als habe Walburg das persönliche Drama dahinter nicht ernst genommen und sich seiner lieber als Kitsch entledigt.

Zum Schluss referiert das gepflegte Ehepaar Sybille/Rolf im Plauderton, wie Stiller mit Julika der Kunst und der Sehnsucht abschwört, um mit Keramik und rhythmischer Gymnastik zum „wahren“ Selbst am Genfer See zu finden. Eine ironische Wendung zur Bescheidenheit und gleichzeitig ein trauriges Begräbnis des hochtrabenden Traums von Selbst(er)findung. Doch auf der Bühne sägt Stiller im Schweiße seines Angesichts nur ein Schweizer Kreuz aus dem Holz. Dass die Resignation jeden Zuschauer viel tiefer angeht als Stillers schweißtreibende Ergebung an die Insignien des Heimatlands, ist verloren gegangen.