Zu Wasser durchs Land

Man könnte doch einmal versuchen, per Anhalter die ganze Republik zu queren, von unten nach oben, von Westen nach Osten – und zwar per Schiff! Und dabei beobachten, wo etwas im Fluss ist und wo es stille steht. Also ahoi! Deutschland vom Wasser aus, Teil 1

VON PETER SCHANZ

Achtung: Rettungswesten reduzieren das Risiko des Ertrinkens! Sie geben keine Garantie für Rettung! [Aus dem Beipackzettel zur Rettungsweste]

Dass am Tag meines Leinenkappens in Basel ein Flusskreuzfahrer mit Namen „Deutschland“ ebenfalls von ganz unten links in Deutschland einlaufen wollte, nahm ich zum Zeichen. Das wäre doch ein würdiger weicher Start, der mich nicht sofort an Granit, Futtermittel und Chemie verwiese. Von Menschenfracht, von glücklichen Reisenden umgeben wollte ich beginnen. Und „Deutschland“ nahm mich wirklich mit – die erste Nacht.

Vom Oberrhein zum Mittelrhein sind es zehn Schleusen. Vom Oberdeck zum Hauptdeck ist es ein Treppenlift. Der gestaute Fluss nimmt Fahrt auf, schon bremst das erste Wehr. Der Rhein ist hier Trog. Seit Ende des Ersten Weltkriegs ist es seine Aufgabe, französischen Strom zu erarbeiten. Das geht am besten aus einem kanalisierten Bett heraus. Uferzauber ist erst für den nächsten Tag annonciert.

Wir dürfen früh schlafen gehen. „Was trinken wir schön?“, imitiert Larissa die Standard-Gästefrage und spielt mit ihrem wilden slawischen Akzent. „Einmal alles ohne Ende!“ Das Personal auf der „Deutschland“ ist heiter, der Feierabend kommt früh, weil wir frisch Eingeschifften betagt sind und erschöpft. Verbalalkoholiker nur, erzählen sich Larissa und ihre Kolleginnen, was sie früher vertragen hätten, an ganzen Flaschen und an Gästen. „Ich will das mal nicht gehört haben“, sagt der Chef, ziemlich badisch, zu seinen human ressources. „Der Service, der kommt vom Herzen. Man kann in der Hotelfachschule lernen, ob man von links oder von rechts serviert, aber wie das ‚Guten Morgen!‘ rüberkommt, das macht den Unterschied – und der sind wir.“ Die „Deutschland“ ist die Grande Dame auf dem Rhein, der Name verpflichtet, ein elegantes Schiff, obwohl sie schon etwas in die Jahre gekommen ist. Es ist wahr: Hier auf der „MS Deutschland“ ist Deutschland eine Dienstleistungsoase, bewässert von fröhlichen Slowakinnen. Sie sollen uns deutschen Senioren auf dem Rhein, der zur Hälfte noch Rhin ist, französisches savoir vivre beipuhlen. Und sie machen das einfach.

Rastatt. Unter Blasmusik die alte Bilderbuchfähre zwischen Plittersdorf und Seltz. Am Sonntagabend aufgeräumtes Heimwärtstasten nach einem Tag voller Laune und Feiertagslob. Durchtrainierte Städter in edlen Karossen neben Fußgängern mit ausufernden Tätowierungen, viel Hüftfett, ohne Ärmel; Flammkuchen aßen sie alle, hüben wie drüben, im Elsass und im Badischen. Plittersdorfer Witwen radeln flatternden Rocks vom französischen Kaffeekränzchen zurück. War das wieder schön! In Jungfamilien wird die heraufdämmernde Scheidung noch ein vorletztes Mal hintangestellt. Der Fluss vereint. Der alte Fährmann und die holde Abendröte verwandeln Fressen in Antlitze, zögern das alte Leid der neuen Woche im Büro noch ein wenig hinaus. Friede am Strom. Und der strömt.

„Das passiert immer wieder“, sagt Lothar Rosenbaum, der Leiter der hiesigen Außenstelle des Wasser- und Schifffahrtsamtes, „dass jemand voll in die Fährbrücke kracht.“ Einer wollte seine schöne Yacht überführen, von Mallorca hinauf ins Hamburgische. Ohne Rheinpatent und ohne Ahnung hätte er die starke Strömung ausnutzen und die Yacht eine Zeit treiben lassen wollen. Und so trieb sie zu Tal, um die Kurve herum, vorbei an Rosenbaums Schreibtisch trieb sie, mitten hinein in die Pontonbrücke der Hochseilfähre, sie verkeilte sich unter der Brücke, kam in finale Schräglage, wickelte sich erst um die Pontons, sank bald darauf und war perdu, die schöne Yacht. Kein Einzelfall. Der Fluss nimmt.

Hinter Rosenbaum an der Wand die alten Pläne des Johann Gottfried Tulla. Der große Begradiger im badischen Staatsdienst hat vor bald zweihundert Jahren dem wirren Rhein ein Drittel seiner Länge herausschneiden lassen. Hat so Überschwemmungen reduziert und Seuchen, Karlsruhe von der Malaria erlöst und der Schifffahrt die Bahn frei gemacht. So fing es an: Kurven lang ziehen, Strudel zähmen, Umwege wegmachen.

Dann hat mich der Herr Schwarz überfallen vor seinem Rathaus, wo ich gerade in Holz Geschnitztes las: „Natürlich-Gemütlich-Plittersdorf“. – „Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen. Los!“ Hier steht der Maibaum, der schönste Badens, so schön, dass er bis Oktober hält. Der Erlebnisbrunnen! Der Bürgerstein! Alles seine Ideen. Wie der Slogan für sein Dorf: „Natürlich gemütlich“. Und alles, was er mir zeigt, ordnet er diesen Kategorien zu. Wir jagen zu den Beweisen: Natürlich ist die Holzskulptur mit Frosch, Fisch und Reiher, ist der Radweg am Altwasser. Gemütlich ist der Gesangverein Liederkranz, ist die Bank, die der Gasthof Anker für den müden Wanderer gestiftet hat. Hier stimmt noch, was auf den Teller kommt. Und gewaltige Versepen in streng gereimter Form hat Schwarz verfasst, worin er die Heimat besingt, am alten Rhein, mit alten Fischern, mit alten Käuzchen. „Aber das bleibt doch, grämen Sie sich nicht.“ – „Doch!“, sagt der Herr Schwarz und erzählt es zum dritten Mal: dass er zwanzig Jahre lang zum Wohle Plittersdorfs alles getan hätte. Dass er nun aber seinen Amtsvorsteherschreibtisch räumen müsse, weil sie ihn abgewählt hätten. Das versteht er nicht. Das wird er nie verstehen. Es waren doch früher immer alle zufrieden. Ich muss jetzt fort, ahoi, leben Sie wohl!

In Iffezheim auf der großen Schleuse macht die „Korsika“ fest. Ein alter Frachtkahn, neu lackiert. Ich gehe nach hinten und rufe in das Ruderhaus. Da sitzt ein alter Mann und kuckt sehr grimmig. Ich bitte ums Mitfahrendürfen bis Mannheim. Der Mann sagt kein Wort. Er macht eine Handbewegung, und ich hole mein Gepäck. Der Mann heißt Hermann, sagt er. „Sag du“, sagt er und: „Ich bin siebzig und ich fahr ja gar nicht mehr.“ 52 Jahre Binnenschifffahrt seien doch genug. Seit vier Jahren. Heute hilft er nur dem Freund, dem Eigner der „Korsika“, damit der zu einer Beerdigung kann. Wir fahren riesige Eisendrahtrollen nach Plochingen, von Kehl den Rhein zu Tal, ab Mannheim den Neckar zu Berg. Und nehmen dort wieder Schrott auf für Kehl.

Bei 3,5 Zentimetern Blutwurst auf seinem Brötchen erklärt mir Hermann alles. Dass auf dem Rhein der Bergfahrer mit der blauen Tafel an der Steuerbordseite seinen Kurs durchsetzt. Dass dort drüben beim Adolf nach Rheingold gegraben wurde. Dass „Korsika“ natürlich nach der Insel heißt, die kurz hinter dem Atomkraftwerk Philippsburg auf der Steuerbordseite von einem Altwasserarm gebildet wird. So einfach ist das.

Der Matrose der „Korsika“ ist ein schwarzer Mann, heißt italienisch Mario und brasilianisch Silva, sagt er, und kommt aus Capo Verde. Seit vierzehn Jahren fährt er mit dem Kapitän auf diesem Kahn, macht alles, weil er eben alles kann: Ruder, Maschine, Deck. Zwei Männer, ein Schiff, das reicht. Und Mario Silva mag das alte Schiff und hält es schön. Die Farbsetzungen des leidenschaftlichen Lackierers sind kühn. Mit verschiedensten Grüntönen, gewagten Gelbs, deutlichen Röten und Signalblau dazwischen hat er seines Chefs Schiff verziert, um das Grau des deutschen Winters noch fern zu halten. Nach sechs Stunden das letzte Manöver: Hermann fährt schwungvoll eine Kurve gegen den Strom, stoppt millimetergenau ab, keinerlei Landberührung; Mario wirft ruhig die Leine, trifft auf Anhieb, belegt die Poller. Ich bin zu begeistern. „Wenn du es 52 Jahre lang machst und warst immer mit Herz und allem dabei, dann ist das normal.“

Anderntags stehe ich mit dem Schifferpfarrer bei „Mamma Mia“ in Mannheims hartem Viertel Jungbusch an der Pizza, Cappriciosa versus Diavola. Von Hermann grüße ich, dessen bester Freund bei der Wasserschutzpolizei dem Pfarrer das Bootsfahren beigebracht hätte, nun aber gestorben sei, nachdem er nachmittags noch bei der Zwetschgenernte und abends in Speyer zum Tanz gewesen war. Schäfer heißt der gute Hirte, auch über ihn kommt am Jahresende die Rente. Schwer zu glauben bei diesem hyperaktiven Seelsorger, der allenfalls fünfeinhalb Tage gebraucht hätte, die Welt zu erschaffen. Mit so einem Hafenpfaffen kannst du über Kaimauern springen. Er schwingt über die Planken, hüpft von den Bordwänden, stemmt mit einem Bein sein Gefährt vom Anleger.

Natürlich muss das Kirchenschiff „Johann Hinrich Wichern“ heißen, nach dem Urvater der Diakonie, der den Protestanten im 19. Jahrhundert die Innere Mission erfunden und ihr den ersten Slogan verpasst hatte: „Wenn die Leute nicht mehr in die Kirche gehen, muss die Kirche zu den Leuten gehen.“ So tuckert Ulrich Schäfer regelmäßig auf Seelenstreife durch den Mannheimer Hafen, kein Schiff bleibt vom Segen unberührt. Der Pfarrer geht ran, wirft die Leine, entert. Dann fragt er schlicht, wie es geht. Und bietet einfach Ohr und gutes Wort. Und seine Schiffer freuen sich über etwas pastorale Aufmunterung. Die Katholikin aus Holland auf ihrem großen neuen Schiff spricht ihm gerne zu. Auch der Mann vom Bunkerboot vis à vis der BASF-Anlagen von Ludwigshafen wird gern besucht. „Das da vorn ist ein deutscher Kahn“, sagt der Pfarrer, „das sieht man von weitem: vergammelt, das zeigt die Seelenstimmung.“ Die Holländer leben ihr Leben auf ihren Schiffen und haben gute Laune. Die Deutschen arbeiten auf dem Schiff für ihre Häuser an Land.

Auf „Chantal“ aus Datteln ist wohl gerade niemand. Und die „Pax“ liegt auch nur da und wartet auf irgendeine neue Ladung. Am Imbissschuppen warten die einen auf Kaffee und die anderen mit Bier. Hinter der Theke harren Würste aller Art auf ihr Verderben, feilgeboten von zwo quellbrüstigen Mannemmerinnen in Erwartung des Feierabends. Inmitten der tristen Weitläufigkeit der Hafenanlagen, wo man so leicht ganze Tage verlaufen kann, bieten der Hafenkiosk und die Regattastuben Fritteusenhandwerk. Überall sind hier hilfswillige Menschen am Werke, die auf ihren Unterarmen tätowierte Anker präsentieren, die der Schifffahrt verfallen sind, die ihr Wasser lieben und die dabei gnadenlos badisch daherschwätze. So viel Hafen hatte ich Mannheim niemals zugetraut. Hier warte ich auf mein nächstes Schiff.

Abends um halb sieben haben sie mich eingefangen, eine Schleife sind sie für mich gefahren, damit sie gegen den Fluss kurz anlegen können zwischen Block I und Block II an der großen Mannheimer Hafenmauer. Eine junge Frau hat mein Gepäck geschnappt und mir Landratte zum Sprung auf den Kahn die Hand gereicht. Sie ist das älteste von neun Kindern der Schifferfamilie Mnich. Vater Mnich ist der Kapitän, Mutter Mnich der Boss. Alle Kindernamen haben sieben Buchstaben, so viele wie ihr Zuhause: „Salisso“ heißt der betagte Dampfer, Baujahr 1938. Setz dich hin und fahr, hatte der Mann zur Frau gesagt, als sie zum ersten Mal das Schiff betrat. Knapp zwanzig Jahre war sie alt, vom Lande kommend und vom Fernmeldeamt. Da setzte sie sich hin und fuhr. Jetzt ist sie bald 27 Jahre auf der „Salisso“.

Über dem Herd hängt ein von Kinderhand ausgeschnittenes und frisch bemaltes Herz aus Papier: „P liebt M“, steht darauf. Und M liebt P. Diese Familie ist voller Liebe und Lautstärke. Damit man das alles zusammenhalten kann bei dem andauernden Maschinenlärm, damit man sich versteht und verständlich machen kann, damit man sich jederzeit der Anwesenheit aller neun Kinder an Bord versichern kann, dafür braucht es klare Kommandos, starke Stimmbänder und gesunde Ohren. Da braucht es jederzeit das deutliche und anerkannt letzte Wort der großen Mutter. Die Mnichs schenken mir zwanzig Stunden Panoramafahrt am allerdeutschesten Rhein, zuzüglich sieben Stunden Nachtruhe vor Mainz – vor Anker, damit die Katzen nicht an Land ausbüchsen.

Wir ziehen vorbei an den Horten härtestgesottener Geselligkeit. Hier hat der Hotel- und Gaststättenverband in schwarzbrauner Vorzeit die Romantik erfunden und besingt seither den Verkehr mit den Fremden. Gaststätte Rheingold. Hotel Loreley. Ausflugsdampfer „Siegfried“. Deutsches Eck, deutscher Wein, deutsches Weib. Warum ist es am Rhein so schön?

Vor Rüdesheim erzählen mir die Kinder, wie wunderbar es ist, in der Fracht zu spielen. Vor Bacharach erzählen sie mir, wie toll es ist, im Fluss zu schwimmen. Vor Andernach erklären sie mir, dass nur solche Schiffer ein Bugstrahlruder hätten, die zu doof wären, ohne eines zu fahren. Während Godesberg vorbeizieht, schwärmen sie von ihrer „Salisso“, die sie nie nie nie verlassen wollen. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so fröhlich bin.

Mutter Gudrun, einfach souverän, steuert den Kahn und die Familie. Wohin? Was wäre ihr Wunsch an die Fee? Wie soll das Leben in zwanzig Jahren aussehen? „Ich möchte, dass jedes meiner neun Kinder einen Dampfer hat. Und dann legen wir uns quer über den Rhein und machen ihn zu! Das wäre mein Ding.“ Darum ist es am Rhein so schön. Jetzt rafft die Zeit: Wo hinter dem Kölner Dom Ford noch seine Autos verlädt, ist Bayer Leverkusen schon am andern Ufer aufgetaucht, und da vorn winkt Düsseldorf. Zu schnell das alles, zu viel Niederrhein für einen Nachmittag auf dem Fluss. Sofort anlegen und von Bord gehen. Das muss vertieft werden.

Was wir von der nächsten Woche erwarten dürfen: Pläsierfahrt vor Düsseldorf – Wanne-Eickel: mit Kohle durchs Revier – Schiffers Erniedrigung – Der absolute Verkehrsknotenpunkt: Bergeshövede – Ein Schiffer tankt Zukunft – Die ersten Polen vor der Porta Westfalica

PETER SCHANZ, 47, geboren am Rhein-Main-Donau-Großschifffahrtsweg, lebt als freier Autor und Dramaturg auf Fehmarn in der Ostsee