Im Cockpit des Leidens

Dieser trostlose Auszug aus dem Paradies, dieses gnadenlose Groß- und Mittelmäßigwerden: Mit seinem neuen, stark autobiografisch eingefärbten Coming-of-Age-Roman „Die Festung der Einsamkeit“ ist dem amerikanischen Autor Jonathan Lethem ein großer, verehrungswürdiger Wurf gelungen

VON JOCHEN FÖRSTER

Jonathan Lethem sitzt in einem kargen Raum eines kargen Kölner Hotels, gelbes Collegehemd, Bluejeans, unauffällige Slipper, ein Glas Sprudel vor sich, und verhält sich wie einer, dem man nichts anhaben kann. Er soll mal kurz sein Leben erzählen, was er nicht will, soll erläutern, was sein neues Buch mit diesem Leben zu tun hat, was er noch weniger will, oder mal sagen, worum es ihm dabei gegangen sei, wie bestimmt schon zehnmal in den Kurzinterviews heute, in den dutzenden seit Monaten.

Lethem, 40, scheuer Neo-Franzen aus Brooklyn, bemüht sich zu sprechen, doch er ist müde und außerdem kein guter Verkäufer seiner selbst. Er weiß ja, was Journalisten wollen. Statements ansaugen, Unerhörtes aus Biografien picken, Kontexte aufbauen, Dinge in Ordnung bringen. Beziehungsweise in Sätze, wie sie Dylan Ebdus, Lethems Alter Ego, in seinem soeben erschienenen Roman „Die Festung der Einsamkeit“ schreibt, in jenem LP-Booklet-Text, der im Roman bezeichnenderweise ein eigenes Kapitel bildet. Die Sprache darin fällt aus dem Roman, enthält Termini wie „verstörend“ und „bedeutsam“, „Ambivalenz“ und „Begrifflichkeit“. Es ist der imitierte Öffentlichkeitston, die in Form gebrachte Uneigentlichkeit, Lethems Feind.

Wenn Jonathan Lethem etwas Allgemeinverbindliches sagen kann über sein Schriftstellerleben, dann, dass er nicht schreiben soll, sondern muss. Jeden Tag quillt es quasi aus ihm heraus. Das sei schon immer so gewesen, dass er jetzt davon leben könne, ein Glück. Wenn man etwas Allgemeinverbindliches sagen kann über Lethems jüngsten Roman, dann, dass dieses Getriebensein, diese Dringlichkeit, diese Must-Writer-Existenz im Ergebnis nie so klar war wie jetzt.

Eigentlich ist der Literat Lethem ja als Spieler bekannt. Einer, der mit Marvel-Comics aufwuchs wie andere mit Enid Blyton, der seinen Ballard, Bradbury und Philip K. Dick gelesen hat und der diese Science-Fiction-Sozialisation noch in seinen ersten Romanen austobte, in Gestalt grundverspielter, notorisch kurzweiliger und hochskurriler Genre-Kolportagen. „Der kurze Schlaf“ funktionierte so, sein 1994 erschienener Erstling. Dieser war selbstredend eine Chandler-Hommage, erzählte zugleich aber von einer Zukunft, in der Tiere sprechen können und ein Polizeistaat das Volk mit Forgettol oder Regrettol ruhig hält.

Nun ist Science-Fiction für anspruchsvolle Autoren schwieriges Gelände. Deshalb erschien „Der kurze Schlaf“ in Deutschland zunächst bei Heyne. Später kam „Als sie über den Tisch kletterte“, worin ein Campusstoff mit rasanten Verschwörungstheorien über ein alles schluckendes Riesenloch zur Groteske montiert wird. „Amnesia Moon“, laut US-Kritik ein Road-Movie-Verschnitt, sowie der „neoromantische Konversationsroman“ (Weltwoche) „Girl in Landscape“ harren der Übersetzung.

Dass es früher oder später ernst werden würde, war absehbar, als Jonathan Lethem von zu Hause zu erzählen begann. Auch „Motherless Brooklyn“ montierte Krimi und Kuriositäten. Es gab viel zu lachen, vor allem über Ich-Erzähler Lionel Essrog, der vor anderen Leuten Quatsch reden muss (medizinisch: Tourette-Syndrom) und den Leser auf der Suche nach dem Mörder seines Ziehvaters durch Brooklyn führt, seine Stadt, in der Mr. Tonys, Mr. Fujisakas und Minna Boys das Sagen haben – Typen, die auch in „Die Sopranos“ mitspielen könnten. Der bisweilen überkandidelte Sprachwitz war auch dem Umstand geschuldet, dass Lionel selbst erzählt. Seine Krankheit erklärt. Neue Worte erfindet, um die Welt zu kapieren; „Feinbein“ etwa bedeutete „Mitglied des Arschstabs“. Trotzdem spielte Brooklyn schon eine Hauptrolle. Und an manchen Stellen klang an, dass es um mehr ging als Parodie, Pop und Karneval und dass dieser Lethem nicht nur viel Vonnegut enthielt, sondern auch eine gute Portion Denis Johnson.

Wie viel Herz in „Die Festung der Einsamkeit“ steckt, lassen der einigermaßen pathetische, „Superman“ zitierende Titel ermessen; die Länge des Romans; die Herstellungsdauer, mehr als vier Jahre. Dann die Vorschusslorbeeren – „best novel of the year“, schrieb letztes Jahr die New York Times. Man erwartet viel, man bekommt noch viel mehr.

Was eine Herzenssache ist, hat Einstiegsclous nicht nötig, es fängt einfach an, man rutscht mit rein und bleibt. Am Anfang ist Dylan Ebdus sechs, weiß, jüdisch und mitten in der schwarzen Welt von Gowanus, Brooklyns Bronx und Hort der Sozialbauten, der „Projects“, damals, Anfang der Siebzigerjahre. Dylans jüdische Identität liegt so nahe, dass sie erst bestätigt wird, als das Buch fast vorbei ist; sie spielt auch weiter keine große Rolle. Weiß zählt, Weiß und Schwarz. Dylan ist das weiße Schaf unter Schwarzen. Der „Whiteboy“, den man in den Schwitzkasten nimmt, dem man das Taschengeld abknöpft und der von besorgten Hausfrauen auf der Straße gefragt wird, ob „alles in Ordnung“ sei, wenn er mit einer Gang rumgammelt.

Und wem hat er das alles zu verdanken? Natürlich den Hippies. Für Dylans Eltern ist der Zuzug in die Dean Street eine Demonstration. Vater Abraham malt manisch auf Zelluloid, Mutter Rachel hasst alle Yuppies nördlich der Flatbush, glaubt ans öffentliche Schulprinzip und hat offenbar ein paar Tassen zu wenig im Schrank. Irgendwann ist sie weg, bis auf ein paar regelmäßige Postkarten aus Midwest bleibt sie’s auch. Dylan ist mit Dad allein. Der malt allerdings meist an seinem Lebenswerk, derweil Dylan heranwächst, wild, frei und gefährlich.

Die selbstvergessene Poesie dieser Kindheits- und Jugendjahre zu beschreiben, nimmt sich Lethem viel Platz, über die Hälfte des Romans, und diese Seiten zählen zum Schönsten, was über das Aufwachsen geschrieben wurde. Dylan wird Straßenjunge, er lernt alle Spiele, Baseball und die Versionen, irgendwann ist er der beste Fänger im Block, und irgendwann lernt er Mingus Rude kennen, Sohn eines dauerkoksenden schwarzen Musikers und einer verschwundenen Mutter. Auch er allein. Sein Gegenstück, Freund, Intimus und, viel später dann, der Stachel in Dylans weißem Mittelstandsfleisch.

Die „Yo-man“-Welt der Straße ist rau, die der verstohlen geteilten Geheimnisse, der Comics und Superhelden dagegen magisch. Zusammen pubertieren Dylan und Mingus heran, erobern die Funkmusik, probieren erste Drogen, renommieren mit Mädchen und leisten gegenseitig „erleichternde Handgriffe“ im Intimbereich.

Wie sehr dies alles Heimat für ihn ist, wie sehr er hierher gehört, wird Dylan erstmals bewusst, als es ihn via Kinderlandverschickung nach Vermont verschlägt und er der blonden Tochter des Hauses erklären muss, was mit „Züge bomben“ gemeint ist. Dann kommt Dylan auf die High School, aufs College, dann macht der Roman große Sprünge, das Erwachsenwerden befällt die Jungs über Nacht, und spätestens hier wird die über allen Teenagerträumen liegende Melancholie Gewissheit. Die Dean-Street-Kindheit geht mit den Siebzigerjahren unter, die Talking Heads singen dazu: „This ain’t no party, this ain’t no disco, this ain’t no fooling around.“

Weiß wird Musikkritiker in Kalifornien, Schwarz landet im Knast, Weiß wird Mittelstand, Schwarz wird Abschaum, so simpel, so beiläufig. Bis Weiß der Festung gewahr wird, die er um sein schlechtes Gewissen errichtet hat, jenes „Cockpit des Leidens“, wie es seine unbefriedigte schwarze Geliebte einmal umschreibt. Also kehrt Dylan, 35 inzwischen, zurück ins gentrifizierte Brooklyn der späten Neunzigerjahre, spürt Mingus’ verpfuschtem Leben nach und versucht seinen Verrat zu kitten.

In dieser Handlung liegt viel. Die Ballade von der Zähmung eines Stadtteils. Vom Outsourcing der Rassentrennung in die Peripherie. Vom Untergang der Visionen in den Achtzigerjahren. Wer will, kann auch jüdische Diasporageschichte darin sehen. Und dann eben den trostlosen Auszug aus dem Paradies, dieses gnadenlose Großwerden. Es zählt zu den angenehm seltenen, dafür umso passenderen formalen Kniffen des Romans, dass er mittendrin die Erzählform wechselt. Im Jetzt wird Dylan zum Ich, er ist keine dritte Person Singular mehr, nichts geht von selbst, er ist ein Subjekt jetzt, ein mittelmäßiges dazu. Wie erwachsen, wie grausam.

Vor allem aber steckt in der „Festung der Einsamkeit“ jede Menge Jonathan Lethem. Man könnte nun die Biografie zu Rate ziehen, auf die vielen Parallelen der Dylan- und Jonathan-Welt hinweisen. Beide Hippie-Eltern, beide Comic- und Musikfreaks, beide aus Brooklyn ab nach Kalifornien und zurück, beide im gleichen Alter. Dies sei sicherlich sein „persönlichstes Buch“, sagt Lethem in einem Ausbruch von Selbstvermarktung. Das mag erläutern, warum der Roman so monolithisch wirkt, wie etwas, das rausmusste. Den großen Wurf erklärt das noch nicht.

Groß machen „Die Festung der Einsamkeit“ die alltäglichen Ausschnitte der Kindheit, in klarer Sprache gehalten, ganze anderthalb glorreiche Seiten allein über Dylans Gedanken während eines Baseball-Sprungs. Darin Sätze wie „In Sonnennähe fühlte sich Dylan wie eine verzögerte Musiknote, die nun aufwärts stieg“. Und groß macht dieses Buch der fein, unaufdringlich gezogene große Bogen. Da waren nun diese Leute, sie hießen Hippies und hatten diesen Traum. Nannten ihre Kinder Dylan und Mingus, nach zwei Propheten der Zeit. Als die Eltern abtraten, innerlich oder äußerlich, blieben Kinder übrig, und zwei davon bauten sich irgendwann auf der Straße ein Haus, von dem sie später merkten, wie bunt es war. „Die Festung der Einsamkeit“ handelt nicht zuletzt von den Zeitlichkeiten der Utopie.

„Wir alle sehnten uns nach diesen Zwischenräumen, diesen Sommerstunden, als Josephine Baker Paris auf den Kopf stellte“, beschließt Lethem sein verehrungswürdiges Werk, „als ein jugendlicher Elvis von seiner ersten eigenen Plattenaufnahme träumte, als Plattenspieler auf dem Schulhof von einer Straßenlaterne gespeist wurden, als der Saft einfach floss.“

Jonathan Lethem: „Die Festung der Einsamkeit“. Aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner, Tropen Verlag, Köln 2004, 700 Seiten, 24,90 €