Lippen in Großaufnahme

Die Macht über die Bilder: In ihrem neuen Film „In the Cut“ gibt die Regisseurin Jane Campion diese Macht an ihre Heldin Frannie ab. So legt sie erotische Wunschträume über das Muster des Thrillers

VON ANKE LEWEKE

Ein Blow-Job im schummerigen Klo einer Kellerkneipe. Man hört das saugende Geräusch, sieht den erigierten Schwanz in Großaufnahme. Gleich zu Beginn macht Jane Campion klar, wonach ihrer Heldin der Sinn steht. Die Literaturprofessorin Frannie, gespielt von Meg Ryan, kann den Blick von diesem Paar nicht lassen. Mit leicht geöffnetem Mund schaut sie zu und wird sich allmählich der eigenen Erregung bewusst. Die Kamera fängt Details ein: Die hockende Frau hat lange, blaue Fingernägel, der aufstöhnende Mann eine Tätowierung am inneren Handgelenk.

Jane Campions neuer Film „In the Cut“ ist eine weitere Versuchsanordnung in Sachen weiblicher Sexualität. Wie ein Laborwesen wandelt Meg Ryan durch ein New York, das in diesem Film tatsächlich etwas von einem Experimentierkäfig hat. Kaum einmal schwingt sich die Kamera in die Höhe. In diesem sexualisierten Thriller wirken die Straßen wie ein Labyrinth ohne Horizont. Man kann sich Jane Campion gut als zerstreut-genialische Wissenschaftlerin vorstellen, die mit zerzaustem Haar das Verhalten ihrer Probandin studiert und ihr dabei dramaturgisch fein dosierte Injektionen weiblicher Sexualhormone verpasst.

In Filmen wie „Ein Engel an meiner Tafel“ und „Das Piano“ wurden Campions Heldinnen zu Autorinnen ihres Begehrens, auch wenn sie sich dafür oft auf einen langen und schmerzhaften Weg begaben. Sexualität als dorniger Weg zum eigenen Ich: Immer ging es der Regisseurin um die Entdeckung der Erotik, um die Anerkennung des Körpers als begehrlich und begehrend. Für diesen Prozess fand Campion in „Das Piano“ ihre wohl schönsten Bilder. Mitten im neuseeländischen Dschungel entdeckt die stumme Ada ihren Körper und die Liebe zu einem Mann. Zunächst ist Sex nur als Tauschgeschäft denkbar. Um ihr geliebtes Klavier zurückzuerlangen, muss sie für Harvey Keitel spielen und sich dabei entkleiden. Mit jedem viktorianischen Kleidungsstück, das sich Ada abstreift, kommt sie sich selbst näher, entwickelt auf geradezu pathetische Weise ein Gefühl für ihre nackte Haut.

Bei diesen seltsamen Subjektwerdungen entwickelten Campions Heldinnen immer wieder ein überraschendes Eigenleben. Oft waren es störrische, verschrobene Frauen, die versuchten, den gängigen Zuschreibungen weiblichen Begehrens zu trotzen, indem sie ihren ureigenen Kampf mit ihrem Körper und dem der anderen ausfochten.

In dem Thriller „In the Cut“ geht es Campion nun weniger um Emanzipation und Eigensinn. Vielmehr schickt sie allerlei Stereotype weiblicher Sexualität ins Versuchslabor. Ganz bewusst inszeniert sie ihre Heldin zunächst als verklemmte Akademikerin und Inbegriff der sexuell frustrierten Frau. Als Literatur-Professorin hat sich Meg Ryan in die Welt der Buchstaben vergraben. Überall in ihrer Wohnung hängen Notizzettel mit in Büchern und Zeitungen gefundenen Sätzen. Stets zieht sie ein Köfferchen voller Bücher hinter sich her. Die Intellektualität ist hier Ballast, aber auch Schutzschild. Und doch entspinnen sich in dieser Ansammlung von Klischees ungewohnte Szenen. Wenn sich Frannie bei ihrer offenherzigen Halbschwester, gespielt von Jennifer Jason Leigh, pragmatische Ratschläge für den Umgang mit Männern holt, dann verharrt der Film im schummrigen Halbdunkeln. Die Kamera tänzelt von Frannie zu ihrer Schwester und zurück, fragmentiert einzelne Körperteile: Lippen in Großaufnahmen, Arme, Hände. Immer wieder versucht Campion, ihre Bilder zu erotisieren, unter sexuelle Spannung zu setzen.

Anfänglich mag dieses Verfahren etwas Zwanghaftes haben, dennoch spürt man, dass die Einstellungen auf merkwürdige Weise von Frannies Wunschvorstellungen bestimmt sind. Hier liegt vielleicht das eigentliche Experiment von „In the Cut“: Jane Campion versucht, ihrer Heldin die Fantasien zurückzugeben, indem sie Frannies sexualisierten Blick über die Versatzstücke des Thrillers legt. Sogar innerhalb des recht standardisierten Serienmörder-Genres macht sie die weibliche Hauptfigur zur Co-Autorin. Man sieht eine Frau, die ihr verdrängtes Begehren nach außen kehrt – und einen Film, der die Bilder der Wahrnehmung seiner Heldin überlässt.

Dafür hat Campion die Gesetze des Thrillers leicht umgewandelt. Tappt diese Heldin durchs Who-dunnit oder durch das Labyrinth ihrer eigenen Wünsche? Frannie wird sich in „In the Cut“ selbst zum potenziellen Opfer machen – und zwar aus reiner Lust. Ganz bewusst sucht sie die Gefahr und stürzt sich in eine Affäre mit einem Polizisten, den sie selbst für den Mörder dreier Frauen hält. Es mag etwas Banales – und manchmal auch Peinliches – haben, Erotik so offen in Zusammenhang mit Tod und Gefahr zu setzen. Doch bleibt es irritierend, wie Jane Campion ihre Heldin zunächst ins Korsett des Thrillers spannt, um ihr dann über das Begehren und die sexualisierte Fantasie die Macht über die Bilder zurückzugeben. Immerhin gelingt es Campions Feminismus, einen Serienkiller-Film lang die Mechanik eines reichlich ausgeleierten Genres in Beschlag zu nehmen.