Anderer Sein

Sänger auf der Flucht: Wie Politrapper und deutsche Reggae-Sänger auf der Popkomm den Imagewechsel suchen

Im Grunde gehört der deutsche Reggae-Sänger Gentleman auf die Couch. Familienroman nennt man das Symptom, auf dem Gentleman eine Karriere aufgebaut hat, die ihn mit seinem letzten Album bis an die Spitze der deutschen Charts führte. Familienroman beschreibt das Gefühl, die falschen Eltern zu haben, in der falschen Familie aufgewachsen zu sein. Klassischerweise glauben Familienromanfälle, eigentlich Prinzen oder Prinzessinnen zu sein, also einem höheren Stand anzugehören.

Bei Gentleman ist es genau anders herum: Er glaubt, eigentlich der schwarzen Unterschicht von Jamaika anzugehören. Wer ihn beim Eröffnungskonzert der Popkomm auf der Bühne sah, dem Four-Music-Abend in der für diese Gelegenheit wiedereröffneten und ausverkauften Deutschlandhalle, wunderte sich auch nicht mehr, dass er sich für eins seiner letzten Videos sogar eine jamaikanische Mutter gecastet hatte: mit einem Willen zur Perfektion, wie sie in einem solchen Fall wahrscheinlich nur deutsche Pfarrerssöhne aufbringen, machte er sogar seine Ansagen im Patois-Slang. Was, tritt man einen Schritt zurück, einigermaßen verstrahlt ist. Man stelle sich vor, man würde in Kingston zu einem Konzert gehen und feststellen, dass es dort eine Subkultur von perfekt Deutsch sprechenden Rastas gibt, die zu reduzierten Elektrobeats Lieder über die Autobahn und den deutschen Wald singen.

Aber die Wege des Herrn sind unerfindlich, Four Music das gegenwärtig erfolgreichste deutsche Label und Gentlemans Platte verkauft sich wie geschnitten Brot. Denn Rhythmus kennt glücklicherweise keine Sprache, Patois ist im Fall von Gentleman ohnehin nicht zum Verstehen gemacht und die grundsätzliche Message des Rootsreggae, dass die Welt besser wäre, wenn sich alle besser verstünden, bleibt ein ehrenvolles Anliegen. Der Wunsch, wegzugehen und ein anderer sein zu wollen, ist sowieso eine Konstante jeder Jugendkultur.

Wenn man allerdings Max Herre lauschte, dem ehemaligen Sänger des HipHop-Kollektivs Freundeskreis und der zweite Four-Music-Künstler an der Spitze der Charts, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch dieser Wille zur Flucht einem mitunter ziemlich zusetzen kann. Irgendwie scheint er sich von seinem alten Image als Politrapper absetzen zu wollen, wo es hingehen soll, weiß er aber auch nicht so recht, und da er seine Texte bevorzugt mit italienischen und hebräischen Versatzstücken spickt, kann man ihm kaum folgen. Dass er als Vaterfigur mit Toni Krahl ausgerechnet den Sänger der aus der Bierwerbung bekannten Ostrock-Landplage City auf die Bühne holte, um den „King vom Prenzlauer Berg“ zu spielen, verstärkte dieses Gefühl existenzieller Wirrheit noch.

So war es an den Fantastischen Vier selbst, mit ihrer gekonnten Mischung aus Comedy-Elementen, alten und neuen Hits und einer großartig eingespielten Band zu demonstrieren, wie schön es ist, wenn man niemand anders sein möchte als man selbst. Sie betreiben ein Label, das der darbenden Tonträgerindustrie gerade zeigt, wie man Hits macht, und ihre eigene neue Platte dürfte Four Music diese Woche die dritte Nummer eins in Folge bescheren. TOBIAS RAPP