Die Wahrheit der Lüge

In „La mala educación“ legt Pedro Almodóvar die Wege seiner Figuren, ihrer Taten und Wünsche wieder als ein kunstvolles Labyrinth an. Doch die Verführungskraft bleibt auf der Strecke

VON CRISTINA NORD

Von Zahara sieht man zuerst nur den Rocksaum. Er hat die Farbe heller Haut und ist mit Fransen dicht besetzt. Langsam und aus nächster Nähe fährt die Kamera nach oben. Am Hintern ruht sie sich einen Moment aus, Pailletten zeichnen die Rundung der Backen nach. Der Körper dreht sich um die eigene Achse und ein Dreieck aus braunen Perlen taucht zwischen den Beinen auf. Auf Brusthöhe dann zwei Hügel, die Spitzen mit rosa Perlen besetzt. Aus dem Dekolletee heraus schaut endlich die Figur: Zahara, verkörpert von dem mexikanischen Schauspieler Gael García Bernal. Ihre wasserstoffblonde Perücke ragt in die Höhe, ihr Lidstrich reicht von hier bis zur Ewigkeit, und wenn sie die Augen aufschlägt, hat man für immer begriffen, was das Wort kokett bedeutet.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Pedro Almodóvars neuem Film „La mala educación“ („Schlechte Erziehung“), und doch bringt er etwas Wesentliches auf den Punkt: Wer nach Natürlichkeit sucht, sucht im Kino des spanischen Regisseurs vergebens. Gael García Bernal spielt einen Mann, der eine Frau spielt, die ein Kleid trägt, das die sekundären Geschlechtsmerkmale der Frau wie eine zweite Haut nachbildet und sie im selben Schritt ins Reich vollkommener Künstlichkeit überführt. Er bewegt die Lippen zu einem Lied, das von einer anderen gesungen wird – „Quizás, quizás, quizás“, einem kubanischen Schlager aus den 40er-Jahren, der sich an die Ohren schmiegt wie ein ganz besonders weicher Stoff.

Alles in dieser Szene also ist Imitat, Nachahmung. Die wunderbare Maskerade – entworfen hat das Kleid der Designer Jean-Paul Gaultier – hat etwas von einer mit sich selbst multiplizierten Kopie. Wie zwei gegenüberhängende Spiegel, die das, was sich zwischen ihnen befindet, so lange reproduzieren, bis man sich nicht mehr auskennt. Es geht um mehr als die bloße Verdopplung; es geht um Überbietung, insofern sich die Multiplikation ins Unendliche fortsetzt. Damit wird die Idee eines Originals getilgt. Dies gilt für die Genderfrage, da der imitierten Weiblichkeit hier keine genuine, natürliche Weiblichkeit vorausgeht. Es gilt darüber hinaus für die Identität der Figur und schließlich auch die Identität des Films.

Worum es in „La mala educación“ geht, ist dementsprechend schwierig zu benennen. Um Missbrauch in einer Klosterschule? Sicher. Doch wer nun ein Drama erwartet, das Täter- und Opferrollen klar verteilte, wird enttäuscht. Anders etwa als Peter Mullans „The Magdalene Sisters“ will „La mala educación“ weder Anklage gegen die katholische Kirche erheben, noch liegt Almodóvar daran, sich in die aktuelle Debatte um Pädophilie in Priesterseminaren einzuschalten. Umgekehrt zu vermuten, der Film wolle lüstern rechtfertigen, wofür es keine Rechtfertigung gibt, führt genauso in die Irre.

Denn Almodóvar bewegt sich jenseits solcher Kategorien. In dem Maße, wie er die Geschichte um den Missbrauch in eine hochartifizielle Konstruktion einbettet, wird deutlich, dass die Eindimensionalität des Sozialdramas seine Sache nicht ist. Denkt man an die vielen Klostergeschichten, die sein OEuvre durchziehen – an die schwangere Nonne in „Alles über meine Mutter“ (1999) oder an den exaltierten Film „Das Kloster zum heiligen Wahnsinn“ (1983) –, dann weiß man, dass Almodóvar im Katholizismus mehr sieht als Brutalität und Bigotterie.

Almodóvars Sache ist die kunstvoll-raffinierte mise en scene. Die Wege seiner Figuren, ihre Taten, ihre Wünsche und Imaginationen legt er als vielgestaltiges Labyrinth an. Am Anfang begegnet man dem jungen Regisseur Enrique Goded (Fele Martínez). So frisch gestrichen sein Büro auch sein mag – wir schreiben das Jahr 1980, der Muff der Franco-Zeit ist verflogen, die Movida kann beginnen –, frische Ideen für einen Film hat er nicht. In seine Schaffenskrise platzt die von Gael García Bernal gespielte Figur, ein Manuskript in der Tasche; es heißt „Der Besuch“. Wer dessen Autor ist, darüber wird „La mala educación“ viele falsche Fährten legen. Hinzu kommt, dass Gael García Bernal im Verlauf des Filmes vier Namen trägt: Ignacio, Ángel Andrade, Zahara und Juan. Es dauert lange, bis man weiß, wie sich diese vier Persönlichkeitspole zueinander verhalten.

Andere Figuren nehmen je nach dem, an welcher Stelle von „La mala educación“ sie auftreten, unterschiedliche Gestalten an. Sie tauchen auf der ersten, der Realitätsebene des Films auf, außerdem in den Rückblenden und schließlich in jenen Szenen aus der Schulzeit, die man zunächst auch für Rückblenden hält, bis man merkt, dass sie den Film im Film bilden. Die Sprünge zwischen den Ebenen nun bringen es mit sich, dass eine Schlüsselfigur wie Pater Manolo von verschiedenen Darstellern verkörpert wird: Zunächst lernt man ihn als einen hageren Mann mit scharfen Gesichtszügen kennen; in vielen Nahaufnahmen erkundet die Kamera das adlerhafte Profil des Schauspielers Daniel Giménez-Cachos.

Eine ganz neue Anmutung bekommt dieser Mann, nachdem etwa zwei Drittel des Films verstrichen sind. Im Büro Enriques steht ein Fremder. „Wer sind sie?“, fragt Enrique. „Ich bin der Böse in Ihrem Film“, sagt die unrasierte, grauhaarige Gestalt. Die eben noch so pointierten Züge sind aufgeschwemmt, den eher mächtigen Leib erschüttert der Husten; Pater Manolo heißt jetzt Señor Berenguer; der Schauspieler Lluís Homar hat übernommen. Und mit ihm bekommt die Geschichte noch einmal eine ganz neue, verstörende Wendung, indem sie sich in einer weiteren Rückblende auffaltet.

So überstrapaziert und nichts sagend der Begriff des postmodernen Kinos ist, Almodóvar gewinnt ihm Sinn ab. Seine Filme verhalten sich zur Filmgeschichte wie liebende Parasiten, ohne dass Selbstreflexion und Zitat in Beliebigkeit mündeten. In „Alles über meine Mutter“ und „Sprich mit ihr“ arbeitete sich der Regisseur am Genre des Melodramas und an Hitchcocks psychoanalytischen Thrillerkonstellationen ab. Er zitierte unter anderem den Verkehrsunfall am Beginn von John Cassavetes’ „Opening Night“, Joseph L. Mankiewicz’ „All About Eve“, Elia Kazans „A Streetcar Named Desire“ und Alfred Hitchcocks „Rear Window“.

Diesmal ist es der Film Noir, den fast jede Einstellung wachruft: Jalousien fächern den Bildraum; auf den Gesichtern ringt dramatisch Licht mit Schatten. Die Figur namens Ignacio/ Zahara/ Juan/ Ángel Andrade mag zwar männlichen Geschlechts sein, doch die Kaltblütigkeit der Femme Fatale hat sich in ihr eingenistet, als wäre Barbara Stanwyck zu neuem Leben auferstanden. Einmal ragt ein Filmplakat zu Billy Wilders kaltem Thriller „Double Indemnity“ ins Bild, Juan und Berenguer sind nämlich gerade ins Kino gegangen, um die „Woche des Film Noir“ zu besuchen. Beim Hinausgehen sagt Berenguer: „Ich komme mir vor, als handelten alle Filme von uns.“ Ein Mord, die letzte Rückblende verrät es, hat sich auch zugetragen.

Hinzu kommt die Selbstreflexivität. „La mala educación“ wird nicht müde, die eigene Struktur auszustellen. Das beginnt mit dem Vorspann. Die Bilder sind Mosaike, schwarz, rot und weiß gefärbt, zusammengestückelt aus den Fragmenten dessen, was der Film bringen wird. Man sieht das Schilf, hinter dem sich einige Einstellungen später der junge Ignacio dem Drängen Pater Manolos erwehren wird; man sieht eine Frau in Reizwäsche, auf allen vieren, im Film wird sie auf einem Plakat auftauchen, das Zaharas Auftritt ankündigt; man sieht die Gesichter der Darsteller, Jesusbilder, ein flammendes Herz, ein Kreuz – all dies kombiniert wie Zeitungsausrisse mit den für sie typischen, grob gerasterten Fotografien, eine in Bewegung gebrachte Collage. Für dieses Strukturprinzip findet der Film immer neue Entsprechungen: das Fliesenmosaik an einem Hauseingang in Valencia, die bunten Schachtelmuster auf den Vorhängen in der dazugehörigen Wohnung, die Wand des Kinos Olimpo, die mit einer zentimeterdicken Plakatschicht beklebt ist. Längst sind nicht mehr die einzelnen Plakate zu erkennen, sondern jeweils nur mehr Fetzen, die die Sicht auf andere Fetzen freigeben.

Nicht zufällig beobachtet man Enrique, wie er aus der Zeitung eine Meldung ausschneidet, von einem Motorradfahrer, der in einer eisigen Nacht erfroren und erstarrt noch 90 Kilometer weiterfährt. So wie Enrique, der Regisseur im Film, so sammelt auch Almodóvar, der Regisseur des Films, sein Material – die unerhörten Begebenheiten des Medienzeitalters. „Sprich mit ihr“ ging auf so einen fait divers zurück: die Meldung von einer Komapatientin, die, nachdem sie von einem Pfleger vergewaltigt worden war, schwanger wurde und bei der Geburt des Säuglings aus dem Koma aufwachte. Ein ins Komische gewendeter Splitter dieser Geschichte bohrt sich in den neuen Film: Zahara vergnügt sich an der Erektion des schlafenden Enrique.

Was „La mala educación“ von den vorangegangenen Filmen unterscheidet, ist die Temperatur. Die Melodramen-Variationen hatten etwas von dem Herz, das in „Alles über meine Mutter“ transplantiert wird: Es schlägt auch im falschen Körper. Es ist warm, es lässt das Blut pulsieren. Der Film, der sich andere Filme einverleibt, pocht trotzdem; Almodóvars Universum des falschen Lebens hat einen warmen Kern.

Das ist in „La mala educación“ anders. So kaltherzig, wie die Figuren einander beobachten und benutzen, so kalt kann der Film sein Publikum lassen. Man mag ihm das vorwerfen: Wo bleibt die Verführungskraft? Wo die Anteilnahme für die Figuren? Man kann die Kühle aber auch als notwendigen Tribut an den Film Noir betrachten – und wird zu dem Schluss kommen, dass niemand existenzielle Fragen – was ist Wahrheit, wenn jeder einen anderen Blick auf ein Geschehen entwickelt? Wie lässt sich erzählen, wenn die einheitliche Erzählung eine Lüge ist? – so elegant und klug in Szene setzt wie Pedro Almodóvar.