Eine entwaffnende Kampagne in Brasilien

Die Regierung Lula kauft ihren Bürgern Pistolen und Gewehre ab. Auch wenn dadurch die organisierte Kriminalität nicht direkt getroffen wird, sehen Experten in der Kampagne einen ersten Schritt gegen die ausufernde Gewalt

PORTO ALEGRE taz ■ Als sich der neunjährige Evandro Fontoura im Armenviertel Vila do Cruzeiro auf den Schulweg machte, traf ihn vor seiner Haustür eine Kugel in die Brust. Stunden später nahm die Polizei einen minderjährigen Jugendlichen aus dem Nachbarshaus fest. Der gestand seine Beteiligung an der Schießerei, bei der Evandro getötet wurde, und gab die Tatwaffe heraus, einen 38er-Revolver.

Schauplatz solcher Geschichten sind die Armenviertel von Rio oder São Paulo, Recife oder Porto Alegre. Fast immer sind Opfer und Täter jung, männlich, arm und schwarz. Mit 45.000 Morden im Jahr führt Brasilien die weltweiten Gewaltstatistiken an. Proportional zur Gesamtbevölkerung werden nur in Kolumbien, El Salvador und Russland mehr Menschen erschossen.

Schusswaffen gibt es mehr als genug. Schätzungen gehen von 18 Millionen Kleinwaffen im ganzen Land aus, registriert sind aber nur nur 7 Millionen. Einen 38er-Revolver kann man für 30 Euro kaufen. Als „großen Fortschritt“ bezeichnet der Anthropologe Luiz Eduardo Soares, der als hoher Regierungsfunktionär einschlägige Erfahrungen in Rio und Brasília gesammelt hat, das Entwaffnungsgesetz der Regierung Lula, das Anfang Juli in Kraft getreten ist.

Die Gebühren für Schusswaffenlizenzen sind drastisch angestiegen, illegaler Waffenbesitz wird nun mit harten Gefängnisstrafen geahndet. Die Behörden bauen ein einheitliches, überschaubares Register auf. Schließlich hat die Regierung ein Entwaffnungsprogramm gestartet – ein „überfälliger Schritt“, so Soares. „Zu vielen Todesfällen kommt es nämlich nur, weil im Konfliktfall gerade eine Waffe verfügbar ist.“ Erschwert werde jetzt auch die Umleitung legaler Waffen in den illegalen Waffenhandel, etwa durch Diebstahl.

In der Zentrale der Bundespolizei in Porto Alegre ist extra für die Entwaffnungskampagne ein 15-köpfiges Team abgestellt worden. In dem kleinen Büro, wo drei Polizisten die Schusswaffen entgegennehmen, herrscht Hochbetrieb. Menschen jeden Alters holen Revolver und Pistolen aus Hand- oder Sporttaschen, manche bringen in Bettlaken gehüllte Gewehre mit. Für einen Revolver bekommen sie umgerechnet 27 Euro, für ein Sturmgewehr dreimal so viel. Nicht jedes Schießeisen wird akzeptiert: Musketen aus dem 19. Jahrhundert, die eher in ein Museum gehören, müssen wieder mitgenommen werden. „Entscheidend ist die Offensivkraft“, sagt der Beamte, der die Personalien, den Waffentyp und die Fabrikationsnummer aufnimmt.

Eliseo Costa gibt ein 20 Jahre altes Gewehr ab. „Schusswaffen habe ich nur als Wehrpflichtiger in der Kaserne gebraucht“, sagt der 36-Jährige. „In unserer Gesellschaft ziehen sie die Gewalt geradezu an.“

„Das sind alles unbescholtene Bürger, die hierher kommen, meistens Rentner, die sich nicht wohl dabei fühlen, wenn sie Waffen im Haus haben“, erzählt der Beamte. Die organisierte Kriminalität erreiche man durch solche Aktionen aber kaum: „Die Drogenhändler verwenden ganz anderes Gerät.“

Auf den zugehörigen Formularen liegen Pistolen und Revolver fein säuberlich aufgereiht. Den meisten sieht man an, dass sie schon lange nicht mehr gebraucht wurden. Doch auch ein 38er-Revolver ist darunter, ganz ähnlich wie jener, mit dem der Schüler Evandro erschossen wurde. Seit Juli wurden im ganzen Land 110.000 Waffen eingereicht – weit mehr als die 80.000, mit denen die Regierung bis Dezember gerechnet hatte. Justizminister Márcio Thomaz Bastos verkündete jetzt eine Verdreifachung der Mittel für die Kampagne.

Um konkrete Auswirkungen auf das Gewaltpanorama nachweisen zu können, ist es noch zu früh. Doch die Zahlen aus dem Bundesstaat Paraná, wo eine ganz ähnliche Kampagne bereits seit Jahresbeginn läuft, sind ermutigend: In der Hauptstadt Curitiba ging der Gebrauch von Schusswaffen um 31 Prozent zurück, die Anzahl der Mordfälle sank um ein Viertel.

60 Prozent aller Schießereien mit Todesfolge passierten nach „banalen“ Anlässen, hat der Gewaltforscher José Vicente da Silva Filho ermittelt. Vorsichtig schätzt er, durch das Zurückdrängen der „legalen“ Waffen lasse sich die Gewalt um fünf Prozent reduzieren: „Das wären immerhin 2.000 Menschenleben im Jahr.“ GERHARD DILGER