Die Rückkehr vom St. Peter

Peter Handke schrieb eine furiose Hate-Speech, Claus Peymann hat sie komödiantisch abgefedert. Ergibt: eine gelungene Uraufführung des Theaterstücks „Untertagblues“ im Berliner Ensemble

VON ANDREAS MERKEL

Sehr gespannt war man, wie dieser großartige Text von Peter Handke noch einmal zur Aufführung kommen würde: Des Heiligen St. Peters wortmächtige Rückkehr aus der Serbien- und Landschaftsverstiegenheit zu uns, in die westlichen Großstädte. Sein Amok-Monolog eines U-Bahn-Fahrers „Untertageblues“ wurde bereits im vergangenen Sommer veröffentlicht (taz vom 28. 11. 2003). Eigentlich hatte Handkes Freund Luc Bondy den Zuschlag für das Wiener Burgtheater bekommen. Aber dann kam dem Regisseur ein privater Trauerfall dazwischen (sein Vater war gestorben) und anschließend wurde das Projekt mit der hochspekulativen Begründung abgebrochen, Bondy fühle sich momentan außerstande, dem Text gerecht zu werden. Das war vor einem Jahr, und so wurde der „Untertageblues“ zu einem Fall für Handkes Leib- und Magenregisseur Claus Peymann am Berliner Ensemble.

Was würde also der „liebe alte Claus“, wie Handke Peymann in einem Brief voller Regieanregungen und Texterweiterungen, der im Programmheft als rührendes Faksimile abgedruckt ist, hintersinnig anredet, was also würde Old Claus aus diesem furiosen Stück machen, bei dem selbst die Regieanweisungen von Fragezeichen durchlöchert und mit Unentscheidbarkeiten gespickt sind.

Nun, er geht zunächst einmal auf Distanz. Wie in einem Guckkasten ist das Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann in einen erhöhten Hintergrund verlagert worden: Ein in so hellem Weiß ausgestrahlter Waggon, dass die Schauspieler fast scheintot aussehen. Das akustische Einstiegssignal wurde hübsch authentisch von der BVG übernommen, während die einzelnen Stationen Namen haben wie „Hoboken – Bir Hakeim – Schönheide“.

Auftritt Michael Maertens als der „Wilde Mann“, der die gesamte Passagierschaft von Aus- und Zugestiegenen in den nächsten zwei Stunden in Grund und Boden schimpfen und schreien wird: all die verhassten Mobiltelefonierer und Kaugummikauer, die Hässlichen und Verzweifelten, die Verliebten und Fröhlichen, die Penner und UN-Sekretäre, welche von einem grandios agierenden Schauspielerensemble mit präziser Öffentlicher-Nahverkehrs-Mimik zur Darstellung gebracht werden. Maertens sieht aus wie die Leander-Haußmann-Version eines Intellektuellen: nachlässig gekleidet, Brille und bewusst verwuscheltes Haar. Er gibt der Figur etwas clownesk Verjammertes: Wär ich doch zu Hause geblieben, und wärt ihr doch zu Hause geblieben! Mit dem ersten Wutausbruch kommt er aber großartig aus sich heraus und wird Handke selbst im Laufe der Geschehnisse immer ähnlicher: Es geht gegen das Lesen in der Öffentlichkeit – eine „Arschhaltung“ –, die Handke gerne auch persönlich in Interviews geißelt.

Dementsprechend hat sich Handkes Schreiben aber auch immer mehr vom gesprochenen und vom sprechbaren Wort überhaupt entfernt. Wo sich Handkes hochnervöses Heidegger-Deutsch noch wunderbar lesen lässt, bekommt es offen ausgesprochen etwas „Ziseliertes“, wie Handke in besagtem Brief an Peymann bereits selbst ahnt. So wird der Abend für Maertens zur Gratwanderung zwischen schönen Sprachbildern und hochpoetischem Scheiß: „Den ganzen Sommer badeten wir im Mühlbach. Auf der Kuhweide zeigte uns das Nachbarmädchen seine Ritze. Hinter den Gasmasken unsrer in der Tundra gefallenen Väter wurde es uns heiß und stickig, aber wir rochen damals ums Leben gern an dem Gummirüssel.“

Zum so versöhnlichen wie überflüssigen Schluss – der Waggon endlich leer und der Wilde Mann beruhigt und verzweifelt – kommt die Wilde Frau (Dörte Lyssewski), die ihrem Gegenpart vorhalten darf, was dieser längst weiß: „Hässlicher du, Allerhässlichster, der du alles verhässlichst mit deinem hässlichen Blick.“ Dann küssen sie sich.

Und dennoch: Mal wieder ein Theaterabend der gelungeneren Sorte in Peymanns zunehmend schickem Puschentheater, wenn er auch Handkes alles riskierende Abrechnung mit der Gegenwart ein wenig zu komödiantisch abgefedert hat. Im Publikum viele Harald-Schmidt-Lacher über Handkes Lust am politisch Unkorrekten und donnernder Schlussapplaus für Maertens und das ganze Ensemble.