Wessis zeigen ihre Wunden

Die Karstadt-Krise zeigt: Am 3. Oktober 1990 verschwand auch die alte Bundesrepublik

Zum 3. Oktober guckt man rituell nach Osten: Wie fühlt der Ossi inzwischen in seinem stark veränderten Heimatland? Niklas Luhmann, der große Weise der Soziologie, hatte allerdings schon 1990 angeregt, auch einen Nachruf auf die alte Bundesrepublik zu verfassen. Schließlich sei bei der Vereinigung auch die BRD untergegangen, und nicht nur die DDR. Der Systemtheoretiker nannte vor allem zwei Leistungen der alten Bundesrepublik, die nun nicht mehr einfach fortgeführt werden konnten: die soziale Marktwirtschaft (wegen Globalisierung) und die „Gepflogenheit zu protestieren“ (sofern sie als Verneinung des politischen Systems auftritt).

Mit beiden Punkten hat Luhmann wohl Recht gehabt. Durch die Marktwirtschaft weht inzwischen der kalte Hauch der Weltwirtschaft. Und Proteste gibt es zwar viele, aber wer da gegen wen protestiert, ist nicht mehr klar. Vollends ungeklärt ist, für was man eigentlich protestiert; im Grunde protestiert, wenn es nicht um Interessenvertretung in eigener Sache geht, das politische System gegen sich selber.

Seit dieser Woche lässt sich die Liste der Leistungen der alten Bundesrepublik, die am Verschwinden sind, durch einen Punkt ergänzen: Mit den Kaufhäusern droht einem weiteren Stück alte BRD der Garaus. Die Aufmerksamkeit, die die Karstadt-Krise in den Medien beansprucht, lässt sich mit der Zahl der gefährdeten Arbeitsplätze nicht mehr erklären. Hier wird auch Trauerarbeit geleistet. Das Kaufhaus im Zentrum der Fußgängerzone: Das stand ja auch für eine Rundumversorgung, eine, wenn nicht fürsorgliche, so doch zumindest vermittelnde Instanz zwischen der Welt der Verbrauchers und der weiten Welt der Konsums. Nun wollen zwar nicht mehr genug Leute in Kaufhäusern einkaufen; aber an die Sicherheit, dass sie im Zweifel da sind, wenn man etwas braucht und auf seiner Schnäppchenjagd anderswo nicht weiterkommt, hat man sich eben gewöhnt. Wieder ein Hinweis darauf, dass auch das Bewusstsein eines Wessis seit 1990 Veränderungen zu verarbeiten hat. In der Aufregung um die Karstadt-Krise zeigt es seine Wunden.

Also, sorry Ossis: Ost-West-Befindlichkeiten schön und gut. Aber ein jeder hat seine Wendeschmerzen. Niklas Luhmann beendete seinen Nachruf auf die Bundesrepublik damals mit einem Hinweis auf die „Herausforderungen der Zukunft“. Die selbstbewussten Verbraucher der Gegenwart, nun egal, ob mit Ost- oder West-Biografie, müssen sich der Herausforderung eines Konsums ohne Vermittlungsinstanzen stellen. DIRK KNIPPHALS