Dschungelgesetz am Kanal

Per Anhalter über Deutschlands Wasserstraßen. Heute Teil 2: Mit Importkohle durchs Revier

VON PETER SCHANZ

Ich steh auf der Brücke und spuck auf den Kahn. Da freut sich die Spucke, dass sie Kahn fahren kann. [Alter Kinderspruch]

Ich bin ja selbst schuld: Was muss ich in Düsseldorfs „Medienhafen“ das Pläsierboot „Düssel“ besteigen. Draußen nur Kännchen, aber mit beiliegender Riesenbockwurst. An Deck frühschoppiges Treiben: ein Fähnlein Lehrerinnen auf Frauenwochenende in der Landeshauptstadt. Die Vergnügungswartin des Kollegiums hat Material zusammengestellt, kopiert, geheftet, zum Nachschlagen. Windgeschützt paar Jungmütter gesetzteren Alters: Sie gönnen sich was, mit Sahne. Die Männer dazu derweil draußen: über die Unverschämtheiten heutiger Airlines beim Bordservice. Und über die Vorzüge französischer Modelle auf dem Kinderwagensektor. „Düssels“ Servierkraft ist Rheinländerin und dennoch zufrieden. Das Gute ist doch: Hier auf dem Dampfer kommt Feierabend nach Fahrplan, in der Kneipe nicht. „Auf Schiff ist einfach besser, und die Gäste trinken nicht so viel.“

Die neue Rheinfähre „Michaela II“ verbindet den Kaiserswerther Biergarten „Alte Rheinfähre“ mit dem Campingplatz „Azur“ am Ufer von Langst-Kierst. Dessen Eingang markieren zwei über Eck gestellte Container, die „Die kleine Kneipe“ bilden. Der eine als wetterfeste Gaststube, den anderen teilen sich Küche und Klo, selbstredend säuberlich getrennt. Davor eine Wagenburg: in der Mitte die notorischen Partyzelte, drum rum vorstädtische Nützlichkeitsfahrzeuge mit Anhängern für Jetski-Renntorpedos. Drum rum notdürftig von Neopren zurückgehaltene Bierwampen. Und diese Hammergestalten mischen nun mit ihren unsinnigen PS den Rhein auf, peitschen viel höhere Wellengebirge zusammen als die zu Tal gehenden Schubverbände.

Tiefes Ruhrgebiet. Auf dem Rhein-Herne-Kanal von der Meidericher Schleuse in Duisburg an Oberhausen und Gelsenkirchen vorbei nach Wanne-Eickel. Namen wie Schacht und Ruß. Die „MS Bornholm“ hat in Duisburg-Wanheim Kohle geladen, für die Zuckerfabrik in Hildesheim. Sind das polnische Kohlen oder australische? „Importkohle ist immer billiger als eigene, egal wo sie herkommt.“ Ausgerechnet Kohlen! Ausgerechnet durchs Revier!

Es leuchtet der Kanal, er ladet zum Bade, Muselmanen an Angelruten säumen grünende Ufer, beleibte Paare lagern um Picknickkörbe unter quietschbunten Brücken, in kristallklarem Wasser schwimmen sportliche Knaben. Das also ist das Ruhrgebiet.

Ich weiß nicht, ob sich die Spucke freut, wenn sie Kahn fahren kann. Sagt mein Partikulier. „Wir auf dem Kahn freuen uns jedenfalls nicht. Wenn’s nur beim Spucken bliebe! Letztens mitten in der Stadt: Ein Junge holt seinen raus und pinkelt von vorn bis hinten durch. Meine Frau hatte Wäsche aufgehängt, konnte sie alles noch mal waschen. Wenn’s nur beim Pinkeln bliebe! Die werfen Steine von der Brücke – nicht in die Kohlen, nein, aufs Haus, aufs Auto. Und haben sie getroffen, lachen die Eltern daneben und freuen sich über die Zielsicherheit der Brut. Ist das normal?“ Und im Sommer die Schwimmer! Greifen aus dem Kanal an, entern das Schiff, laufen nassfüßig über die Kohleberge und hinterlassen überall schwarze Fußspuren an Deck. Oder schmeißen Dinge ins Wasser, Schifferbesitz. Piraterie ist das, mitten im Revier. Rhein-Herne-Amazonas! Dschungelgesetz!

Die Grünen versteh ich auch nicht“, sagt mein Partikulier. „Wir Schiffer sind doch die, die alles von der Straße holen! Wir sind wirtschaftlich, wir sind zuverlässig und wir machen keinen Dreck. Und warum sagen die dann, wir machten die Ufer kaputt? Sehen Sie eine Welle da draußen? Na also. Mit 10 km/h soll ich das Ufer kaputtmachen? Lachhaft. Wer fährt außerhalb der Markierung? Wer fährt ins Schilf? Yachten, Sportboote, Freizeitkapitäne – nicht alle, aber …! Warum sind die Grünen nicht unsere Partner? Wir sind allen egal. Ganze achthundert Partikuliere in ganz Deutschland gewinnen für niemanden eine Wahl. Wir haben keine lukrativen Aufsichtsratposten zu vergeben. Die Lkw-Lobby ist unschlagbar. Die Bundesbahn wird subventioniert, weil sie Kapazitäten verspricht, die sie nicht halten kann. Und der Binnenschiffer ist wieder der Gelackmeierte.“ – „Bald sind wir in Rente, dann ist es vorbei“, sagt die Partikuliersfrau.

Mit einer Flasche Roxane Quellwasser besteige ich die Schleuse Wanne-Eickel. Die Schleusenwärter heutzutage! Hier sind sie gepierct, tätowiert, blondiert oder langhaarig. Sie sind herzensgut, zuvorkommend und lieben ihren Beruf. Der eine, weil er nur noch Schleusendienst machen kann, der andere, weil er nicht nur Schleusendienst machen muss. Er ist auch Dammbeobachter: späht dem Fuchs in die Höhle, damit der nicht den Deich anknuspert, stutzt, wenn Schilf auf der landinneren Seite undichte Stellen anzeigt. Er genießt die Vielfalt. Bloß auf die Wasserleichen ab und an könnte er verzichten.

Auf Schleuse zu sein entspannt. Der Schleusenturm ist Chill-out-Area, entschleunigt die Festlandshektik. Alles fließt, wie es fließt: Bevor die Kammer nicht voll gelaufen ist, wird das Tor nicht aufgemacht. Bevor es nicht auf ist, kann keiner raus. Bevor nicht alle draußen sind, kann kein Neuer rein. „Hilfeleistender, bleibe ruhig! Hast schadet.“ Steht auf der Legende neben jedem Rettungsring.

Wir sind grad schön Käffken am Trinken. Siehst du den Mond über Wanne-Eickel? Nein, das ist das Flutlicht vom Steag-Kraftwerk. War hier die Zeche Unser Fritz? Der Bergbau lässt auch Erde sinken. Da drohen die Wasser überzulaufen. Da heißt es Kanäle aufstocken, Schleusenwände erhöhen, aufschütten das umtriebige, hyperaktive Ruhrgebiet. Es hat sich dadurch schon eine ganze Schleuse erübrigt. Aber Wanne-Eickel bleibt bestehen.

Auch Borcherts fahren Kohlen, mit „MS Borsigwalde“ von Bottrop nach Berlin. Auch sie ein eingespieltes Paar. Er Berliner aus der Schifferfamilie, sie Hamburgerin aus eigenem Friseurgeschäft. Die Frau schleppt Taue, belegt Poller, macht Knoten und spritzt die Kohlenkrümel von Deck. Dann kommt sie mit den belegten, selbst gebackenen Broten auf die Brücke. Dann sitzen wir alle im Ruderhaus und mümmeln uns was weg, und draußen geht der Abend nieder und verbreitet Herbst.

Wunderbar war die Hochzeit vor elf Jahren im Hamburger Hafen. Und jetzt ist es gut so, wie es ist. Und sie ist ja zufrieden. Aber sie würde es nicht noch einmal machen. Die Kontakte gehen den Bach runter, die an Land können das Schifferleben nicht nachvollziehen. Gut, man kennt nun paar neue Leute, Schiffer eben. Aber wann trifft man die? Die Handyrechnung ist enorm, aber ein Segen ist das verfluchte Ding schon. Ferien sind ja auch so ein Problem für den Partikulier. Sollte er wirklich mal einen Urlaub buchen, dann ist es schon zwei Wochen vorher spannend: Nehme ich noch Fracht an? Ich kann doch nicht jetzt schon absagen? Aber wohin werden die mich schicken? Und wo stell ich mein Schiff ab für zwei Wochen Teneriffa? Wer passt darauf auf? Und wie lange muss ich nach der Rückkehr auf meine nächste Tour warten? Ich bin doch doof, wenn ich in Urlaub fahre. Also bleiben wir auch dieses Jahr wieder zu Haus.

Bergeshövede ist das Kamener Kreuz der Binnenschifffahrt, Verkehrsknoten- und Angelpunkt, „das Juwel am Nassen Dreieck“. Die Jungs Artur, Lars und Florian, die ihre Angelruten vor dem gleichnamigen Gasthaus in den Kanal halten, sind in jenem Alter, in dem sie einfach nicht erklären können, weshalb das nasse Dreieck nasses Dreieck heißt. Sie wollen so gerne seriöse Gesprächspartner sein, aber sie können sich nur scheckig kichern. In Bergeshövede trifft die Kanalwelt aufeinander: Auf Kilometer 108,3 des Dortmund-Ems-Kanals beginnt mit Kilometer 0 der Mittellandkanal. Viel Wasser hier – die Schiffer können festmachen für die Nacht und können bunkern, bei Bahrmann, Schiffsausrüster und Bunkerstation am nassen Dreieck.

Heinrich Grube aus Hamburg fährt im Schiffergeschäft seiner Mutter. Der Opa fuhr noch im Krieg Tabak von Pommern zu Roth-Händle ins Badische. Als seine zwei Schiffe zwischen Russ’ & Ami eingekeilt waren, versenkte er sie in einem Kiesloch im Lauenburgischen. Und hat sie später wieder rausgeholt. Grube selbst fährt erst zwei Jahre. Er ist eigentlich Schiffbauer und hatte einen guten Job auf einer Hamburger Werft – bis zu deren Insolvenz. Nach einem Jahr ALG stieg er quer auf dem Schiff ein. Fährt auf Mutters altem Tanker „Elbetal“ einen Rhythmus von 28 Tagen an Bord und 28 Tagen zu Haus, wie sein Matrose Rudy aus Tschechien. Die anderen vier Wochen kommt ein anderes Männergespann.

Wenn nur Männer an Bord sind, dann riecht es anders. Strenger einfach. Männerwirtschaftsmänner sind auch deutlich nachlässiger angezogen als schiffige Ehepaare. Es wird auch nicht so auf Punkt gekocht, sondern irgendwann mal ’ne Dose aufgemacht. Und die Abende verbringen die Männer verteilt: der Matrose vorne im Matrosenhaus, der Kapitän hinten in seiner Bude. Jeder hat einen eigenen Receiver für die Schüssel. Das reicht an Komfort. Die anderen 28 Tage wohnt da ja auch ein anderer. Warum also einrichten? Grubes Frau hat eh keine Lust mitzufahren.

Am Wiehengebirge entlang zieht sich Deutschland beträchtlich in die Länge. Dieser endlose Mittellandkanal. Grube zählt mir jeden Holländer vor. Die kriegen ein neues Schiff über dreißig Jahre finanziert, wie ein Haus. Wir nicht. Alles in holländischer Hand hier – bis Magdeburg. Hinter Magdeburg dann: polnisch. „Du wirst sehen.“

Schon anderntags mein erster Pole, schon in Minden, an der Weser. Richtung Elbe Leinen los, bis zur Leine: Teutonia-Hafen in Hannover. Wunderbar: ein kleiner verschmitzter Kapitän, ein langer einzähniger, aber nicht einsilbiger Steuermann. Eine Frau dabei, undurchschaubaren Alters und recht blond über dem rosa Turnanzug, deren Rang und Stand mir verschlossen bleiben. Bald erfahre ich die Lage der Wasserwirtschaft in Polen: „alles Saiße“, alles schlecht; die Kanäle verschlammt, die Schleusen verrottet. Und das, was sie noch haben, hätten eh alles damals die Deutschen gebaut. Gierek hätte ja noch was für den Schiffbau getan, aber die heutige Regierung! Willkommen in Europa: gemeinsam durchs Jammertal schwadronieren, Politiker verdammen.

Hannover tat so, wie ich mir das Ruhrgebiet erwartet hatte: großstädtisch, kraftwerkreich und tüchtig schrottumschlagend, dann wieder sehr eigenheimelig verschrebert. Hochbetrieb am Kanal. An den Ufern abartig viel Gejogge. Und ausnahmslos unter jeder der etwa 123 durchfahrenen Brücken Graffiti, kryptische Botschaften wie „knx wts“ und eindeutigere: wer zu ficken sei und wer wen liebe. Im Stichkanal Misburg verließ ich meine polnische „Transbode 11“ aus Wrocław. Jetzt weiter zur Hindenburgschleuse!

In der nächsten Woche: Hartes Friesengewächs – Vor der Autostadt – Ostwärts gen Magdeburg – Wusterwitz!

PETER SCHANZ, 47, lebt als freier Autor und Dramaturg auf Fehmarn in der Ostsee