„Auch Kerry ist Imperialist“

„Bush wird verlieren. Aber dann werden seine Leute Kerry um den Sieg bringen“

INTERVIEW BERND PICKERT

taz: Herr Vidal, können Sie sich an das letzte Mal erinnern, als Sie eine Rede von George W. Bush hörten und dachten: Hey, der Mann hat Recht?

Gore Vidal: Ich glaube, die Reaktion ist bei mir noch nie eingetreten.

Nicht einmal, als er beim Republikaner-Parteitag sagte, dass er mitunter Probleme mit der englischen Sprache habe?

Nein, das war ja nichts Neues.

Sie haben vor zwei Jahren geschrieben, man wisse noch immer nicht, wer für die Verbrechen des 11. September verantwortlich sei. Sie forderten eine Untersuchungskommission. Deren Bericht liegt nun vor. Überzeugt er Sie?

Der Bericht ist besser, als ich erwartet hatte. Aber er verschleiert weiter die Rolle des Präsidenten, beziehungsweise das Fehlen irgendeiner Rolle Bushs. Was ich gesagt hatte – und was natürlich falsch interpretiert wurde – war: Bush und seine Regierung haben stets behauptet, sie hätten keinerlei Warnungen gehabt. Sie hatten in Wirklichkeit nichts als Warnungen! Das hat die Senatsuntersuchung ja auch bewiesen. Mubarak hatte gewarnt; Putin hatte gewarnt; mehrere FBI-Mitglieder hatten Dinge herausgefunden und gewarnt – ihnen wurde der Mund verboten. Warum? Niemand weiß es.

Der Bericht spricht von einem Mangel an Kommunikation und eine fehlende Vernetzung und Auswertung vorhandener Informationen der verschiedenen Dienste.

Aber das ist doch keine Antwort. Wenn Sie schwer wiegende Erkenntnisse über die Bedrohung der Sicherheit der Nation und ihrer Menschen haben, dann bringen Sie die nach ganz oben, um Maßnahmen im Vorfeld einzuleiten.

Geschieht das nicht jetzt mit dem „Krieg gegen den Terror“?

Das ist nur ein rhetorischer Slogan. Terrorismus ist ein Abstraktum, und gegen ein Abstraktum kann man keinen Krieg führen. Das ist, wie wenn Sie einen „Krieg gegen die Nervosität“ führen wollen – ich wüsste nicht, wie. Aber die Erwähnung des Wortes „Krieg“ ist für diese Gang etwas sehr Aufregendes, denn es gibt da einen Satz in unserer Verfassung, der von „militärischer Notwendigkeit“ spricht. Mit dieser Begründung kann man Bürgern eine ganze Reihe von Rechten nehmen. Der Kern all unserer Freiheiten sind der fünfte und sechste Verfassungszusatz: Man darf uns weder die Freiheit, das Leben noch das Eigentum wegnehmen, ohne dass es darüber ein ordentliches Verfahren gibt. Die Regierung hat das abgeschafft. Jetzt heißt es: „Wir wissen, dass Sie ein Terrorist sind. Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Und dann sitzen Sie für 20, 30 Jahre hinter Gittern, ohne je eine Erklärung zu bekommen. Dann haben sie sich den „präemptiven Krieg“ ausgedacht – das bedeutet, sie können jedes Land angreifen, wenn sie Lust dazu haben. Seit Nazideutschland war so etwas nicht mehr die Doktrin eines modernen Staats.

Noch mal zurück zum 11. September. Es gibt Interpretationsspielraum, ob es sich dabei nun um Abstimmungsfehler oder um die Absicht gehandelt hat, 9/11 geschehen zu lassen. In Ihrem berühmten Artikel vor zwei Jahren, „Der Feind im Innern“, schreiben Sie, es habe ein großes Interesse der Neokonservativen und der „Bush-Junta“ an einem solchen Anschlag gegeben, um die längst vorbereiteten Politikpläne ins Werk setzen zu können. Sind Sie noch immer dieser Meinung?

Das war schon damals nicht meine Meinung. Ich habe gesagt, dass sie 9/11 ausgenutzt haben, um all das zu tun. Ich wurde sofort so interpretiert, dass ich Bush für 9/11 verantwortlich mache. Unsinn. Der Mann findet allein kaum den Weg ins Bad – er kann so etwas nicht planen. Ich habe nur gesagt, dass sie, um die außergewöhnlichen Kriegsvollmachten zu bekommen, eben einen Krieg brauchten.

Und wer stand nun Ihrer Meinung nach hinter dem 11. September?

Ich behaupte, dass wir das auch heute nicht wissen. Ich nehme an, dass es Ussama Bin Laden war. Aber die richtige Art damit umzugehen, wäre eine Polizeiaktion gewesen – dazu gibt es Interpol. Wenn die Mafia die Staatsbank in die Luft sprengt und Goldbarren stiehlt, ruft man Interpol und bombardiert nicht Sizilien.

Der letzte Amerikaner, den ich hier im Adlon-Hotel interviewt habe, war Richard Perle …

Oh dear!

Ich habe ihn auch gefragt, ob nicht ein Polizeieinsatz gegen Kriminelle und Terroristen angemessen gewesen wäre. Er beschuldigte mich daraufhin, die Bedrohung zu unterschätzen und naiv zu sein. Herr Vidal, sind Sie naiv?

Bin ich nicht. Aber er ist ein Verbrecher! Und Verbrecher sagen alles mögliche. Ich bin nicht naiv, ich bin Historiker, Herrgottnochmal. Er nicht. Naiv worüber? Den Feind? Was für einen Feind? Die einzigen Feinde der USA sind die, die wir selbst schaffen, indem wir muslimische Länder in die Luft sprengen, den Islam dämonisieren. Das schafft Feinde.

Da die USA eine ganze Reihe von Interessen weltweit haben, würden viele Leute sagen, dass es ganz normal ist, dass sie sich Feinde schaffen – damit muss man dann umgehen. Welche Rolle würden Sie denn den USA zudenken?

Sich an ihre eigenen Angelegenheiten zu erinnern. Wir sind eine merkantile Republik, wir produzieren Dinge, verkaufen Dinge, kaufen Dinge. Das ist alles. Wir sind nicht Jesus. Wir sind keine Theokratie, noch sollten wir uns mit Theokratien verbünden. Aber das Land wurde seit Harry Truman 1950 militarisiert.

Viele Leute halten die Remilitarisierung der US-Außenpolitik für ein Ergebnis der Bush-Regierung, während sie die Clinton-Jahre mit mehr Multilateralismus und Engagement in den Vereinten Nationen verbinden.

Clinton war den imperialen Notwendigkeiten genauso verpflichtet wie Harry Truman. Er sprengte eine Aspirinfabrik im Sudan in die Luft und viele Dinge mehr. Er hat nicht an präemptive Kriege gedacht, das ist die neokonservative Zugabe zur aktuellen Politik. Aber alles andere geht auf Truman zurück – wir haben uns immer überall eingemischt.

Sie haben jede US-Regierung in den letzten fünf Jahrzehnten kritisiert. Was bedeuten insofern die kommenden Wahlen für Sie, sind sie wichtig?

Es sind die wichtigsten in unserer Geschichte. Aber wir werden das nie so genau erfahren, denn meine Befürchtung ist: Kerry wird gewinnen, Bush wird verlieren. Aber dann werden seine Leute Kerry um den Sieg bringen. Es wird ein umstrittener Wahlgang sein, wegen all dieser elektronischen Wahlmaschinen. Sie werden einfach sagen, dass eine neue Stimmauszählung auf nationaler Ebene nicht machbar und eine neue Wahl zu teuer ist, und dann bleibt der bisherige Präsident einfach im Amt. Der Oberste Gerichtshof wird das zu einer wundervollen Idee erklären – und das ist der Moment, an dem ich Truppen schicken und den Obersten Gerichtshof vor Gericht stellen würde, was ich schon 2000 getan hätte, als die Richter Bush illegalerweise und entgegen der Verfassung zum Präsident machten. Wir werden wieder in der gleichen Situation sein, dass ein nicht gewählter Präsident im Amt ist und Kriege führt, für die er von der amerikanischen Bevölkerung nie ein Mandat erhalten hat und die nie vom Kongress erklärt worden sind.

Trotzdem: Nehmen wir an, Kerry würde Präsident. Er hätte ein Erbe anzutreten, etwa im Irak, was nicht einfach zu handhaben ist.

Er ist ein Imperialist. Es gibt im Land eine politische Spaltung zwischen Imperialisten und Republikanern im historischen Sinne, zwischen denen, die die amerikanische Republik mögen und denen, die das Imperium mögen. Nun sind wir ein Imperium, und wie Perikles so weise gesagt hat: „Wir Athener sind für die Art kritisiert worden, wie wir unser Imperium errichtet haben. Wie berechtigt die Kritik auch immer sein mag, muss ich euch warnen: Wenn man einmal ein Imperium hat, ist es schwierig, davon wieder wegzukommen.“ Kerry wäre in dieser Situation. Was immer er will, ist schwer zu machen. Wir haben uns zu viele Feinde geschaffen. Und er ist ein Imperialist, und er würde wieder für den Krieg stimmen, so wie er es schon im Senat getan hat. Aber die meisten Amerikaner sind Isolationisten. Wir waren das schon immer, seit George Washington. Es gibt einen Satz von John Quincy Adams – einem der brillantesten Männer, die je Präsident waren – auf die Frage, ob die USA für die griechische Unabhängigkeit von der Türkei in den Krieg ziehen sollten: „Die Vereinigten Staaten sind keine Helden, die hinausziehen, um Drachen zu bekämpfen.“ Das war 1824. Die meisten nachdenklichen Amerikaner kommen aus dieser Denkrichtung.

Noch mal: Was würden Sie denn einem Präsident Kerry raten, im Irak zu tun?

Jeden Amerikaner aus dem Mittleren Osten abziehen. Alle Hilfe für Israel und Ägypten stoppen. Raus gehen.

Und dann?

Wir könnten unser Geld für so frivolle Dinge wie Schulen ausgeben – unsere öffentlichen Schulen sind ein Skandal. Gesundheitsvorsorge. Umwelt …

aber was geschieht dann im Mittleren Osten?

Lasst sie sich gegenseitig umbringen! Wenn sie das machen wollen. Wer sind wir denn, dass wir uns da einmischen? Wir haben unser eigenes Land in den Dreck geritten. Wir reden davon, Demokratie in der Welt zu verbreiten – wir hatten noch nie eine Demokratie! Die Gründer wollten das nicht, das Wort taucht in unserer Verfassung nicht auf. Wir sind eine Republik, und zwar eine sehr strenge und kaltherzige. Einen sicheren Platz, um Geschäfte zu machen, das ist alles, was wir wollten. Dann kam all diese Rhetorik über Demokratie und Freiheit. Die Armen haben keine Freiheit, nirgends. Und die Hälfte unserer Menschen sind ziemlich arm. Wir haben zu Hause viel zu tun.