theorie und technik
: Geiselschlachtungen und Multitude: von den Kollateralschäden der Terrorpraktiken

Hannah Arendt definierte Öffentlichkeit als Begegnungsraum. Was aber wird daraus, wenn sie von Bildern des Grauens okkupiert wird?

Heute wieder: die Zeitung nicht einmal aufgeschlagen, blickt einen eine blicklose Geisel an. Oder war es gestern? Oder morgen?

Il Foglio zeigt 20 Bilder von Enthauptungen.

Danach Negri/Hardt gelesen. Die neueste Predigt. Dort schlagen sie sich damit herum, wie sie ihr altes Konzept des Empires mit dem neuen „Krieg gegen den Terror“ verbinden können. Das Verbindungsstück, das sie finden, heißt Aufstandsbekämpfung. Da kann das imperiale Netzwerk der Souveränität schon mal die imperialistischen Züge der letzten Supermacht annehmen, um das zu bekämpfen, was unter Aufstand rubriziert wird. Nämlich alles – von den No-Globals bis al-Qaida.

Was bedeutet das, wenn man täglich solche Bilder sieht? Was einem da präsentiert wird, ist ein verzerrtes Spiegelbild von „uns“. Uns – das sind wir Westler in der Perspektive eines äußerst beunruhigenden Anderen. Die Bilder zielen auf jeden von uns. Täglich sieht man einen – irgendeinen, diese Unbestimmtheit ist zentral, denn die Message lautet: Es kann jeden treffen – von allem entkleidet, was uns ausmacht, wenn wir uns öffentlich begegnen: Hier sind wir ohne Person, ohne „Charaktermaske“, wie Marx sagte, ohne jene Maske, die uns voreinander schützt. Täglich wird einer von uns in dieser nacktesten Nacktheit vorgeführt. Das Bild der Geisel ist das andere Bild von uns. Es meint: So seid ihr eigentlich, schaut euch an in eurer Jämmerlichkeit! Das war doch mal eine aufklärerische Strategie, das Bild vorhalten.

Auch wenn vor der Macht alles Aufstand ist, versuchen Negri/Hardt noch, den guten Aufstand zu retten. Die Multitude soll rebellieren – indem sie etwa „schockiert“.

Es ist an der Zeit, sich klarzumachen, wie weitreichend die Kollateralschäden der Terrorpraktiken sind. Diese erreichen uns nicht nur durch jene Art der „Aufstandsbekämpfung“, wie erhöhte Sicherheitsmaßnahmen, die demokratische Freiheiten untergraben. Ihre Effekte sind nicht nur auf Seiten der Macht. Sie affizieren auch jene politischen Parameter, jene Begriffe und Bewegungen, die auf Seiten einer wie immer gearteten Rebellion stehen.

Täglich knallen uns Bilder von Geiselschlachtungen entgegen, und Negri/Hardt wollen durch „kiss-ins“ schockieren? Schockieren war früher eine Strategie, um die Grenzen des Zulässigen auszuloten und zu erweitern. Diese Strategie setzte also so etwas wie Öffentlichkeit voraus. Öffentlichkeit, das ist der Raum, in dem Menschen miteinander umgehen. Dort wird das Gemeinsame, das uns zugleich „verbindet und trennt“, sicht- und hörbar. Hannah Arendt nannte deshalb Öffentlichkeit einen „Erscheinungsraum“.

Was aber wird aus dieser Öffentlichkeit, wenn sie täglich von Bildern des Grauens okkupiert wird? Das Publikum, das wir ungewollt abgeben, ist weder eines von bloßen Konsumenten, noch eines von Teilnehmern an der Öffentlichkeit. Wir sind keine Konsumenten, da wir Teil des Szenarios, Teil des Schreckens sind. Und wir sind keine Teilnehmer an der Öffentlichkeit, da unsere unfreiwillige, aber unausweichliche Partizipation den „Raum des Gemeinsamen“ auflöst – statt herstellt. Die Bilder von öffentlichen Schlachtungen beliebiger Opfer zersetzen das Öffentliche. Das macht auch den Anachronismus von flammenden Appellen wie jenem von André Glucksmann nach Beslan aus: der Resonanzraum ist verschwunden.

In Negri/Hardts Konzept ist das Empire eine Biomacht, gemäß dem Foucault’schen Terminus. Eine Macht also, die auf das menschliche Leben selber zielt. Das Empire ist die Souveränität, die auf das Leben zugreift. Den Widerstandspol gegen diese Macht sehen sie in der Multitude, dem guten Ungeheuer, der schöpferischen Kraft. Da kommt ihnen eine neue Figur in die Quere: der Selbstmordattentäter. Dieser verwandle – so Negri/Hardt – das Leben selbst in eine fürchterliche Waffe. Er sei die Antwort, die „ontologische Schranke der Biomacht in ihrer tragischsten und abstoßendsten Form“.

Die Opfer, die uns vorgeführt werden, hingegen werden doppelt gerichtet: als Existenz und als Person. Sie werden getötet, und sie werden auf ihre existenzielle Nacktheit als bloßes Leben reduziert. Im Gegensatz zu den Selbstmordattentätern sind sie noch des letzten Refugiums der Person entkleidet: des Willens, sich zum reinen Leben zu machen. Diese nackteste Form des Lebens ist der Gipfel der Obszönität. Was sagen nun alle Biomachttheoretiker – von Negri bis Agamben –, wenn nicht nur die Macht, die auf den bios zielt, sondern auch die Gegenbewegungen das Leben in seiner Nacktheit hervorbringen? Wie lässt sich da noch ein biopolitischer Aufstand denken? ISOLDE CHARIM

Isolde Charim und Robert Misik schreiben abwechselnd eine Theoriekolumne – jeden ersten Dienstag im Monat.