Böser, böser Che Guevara

Schriften zu Zeitschriften: „Cicero“ denkt über Vorbilder nach. Und die neue „Lettre“ bejubelt ein „wildes Tier der Erfahrung“ – Alexander von Humboldt

Nicht einmal zu Karstadt kann man sich noch flüchten, wenn einen dieser Tage die Zukunftssorgen um das Land einholen. Denn schuld an der Karstadt-Krise sind wieder einmal nur wir selbst. Unserem Mitleid mit den von Entlassung Bedrohten ist nämlich entgangen, dass wir die altvertrauten Konsumangebote der egalitären Warenhauskultur inzwischen längst verschmähen.

Schlägt man die Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Cicero auf, erfährt man von Wolfgang Kersting, warum das so ist: „Die Entwicklung unseres Seelen- und Gefühlshaushalts, unserer lebensethischen Kapazitäten hat mit der Entwicklung unserer Konsumgewohnheiten nicht Schritt gehalten.“ Die Unbeliebtheit des Liberalismus liegt für Kersting in der Offenheit der Marktgesellschaft begründet. Denn der Offenheit ging die Zerstörung jener kollektiven Sinnstiftungen voraus, die nur in den geschlossenen Systemen von Religion und Geschichte bestehen können. Kapitalismus und Liberalismus haben das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen. Heutige Kapitalismuskritik ist dagegen nur theorieloser, gefühliger Moralismus, der über einer unbegriffenen Wirklichkeit schwebt und den Wert der Freiheit einem perspektivlosen Antimodernismus opfern will.

Da frohlockt auch Cicero-Chefredakteur Wolfram Weimer: „Der intellektuelle Mainstream ist heute alles andere als links, der habituelle sowieso. Deutschland wird wieder bürgerlich, aber es quält sich noch mit dem Restmüll seiner kollektivistischen Experimente herum.“ Und bürgerlich heißt eben auch, dass man sich in Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheit wieder stärker nach den großen einsamen Vorbildern sehnt.

Cicero schreitet hier munter voran und präsentiert das Werk des Berliner Fotografen Peter Badge, der sämtliche noch lebende Nobelpreisträger abgelichtet hat. „Bilder von intimer Monumentalität“ sollen das sein. Doch irgendwie fehlt im Umgang mit Vorbildern noch die rechte Routine. Färbt die geballte Intelligenz durch das bloße Hingucken ab? Christine Eichel bleibt in ihrem Kommentar selber skeptisch und zitiert Lichtenberg, der sich über den Begründer der modernen Physiognomik, den Schweizer Pfarrer Johann Kaspar Lavater mokiert: „Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen.“

Bei Cicero baumeln dagegen die ohnehin schon toten Idole der 68er. Daniel Wolf erklärt Che Guevara zu einer der überbewertetsten Personen des Jahrhunderts. Disqualifiziert hat sich der Che durch mangelnde Wirtschaftskompetenz: „Seine Jahre als Kommandant der kubanischen Wirtschaft trieben das Land in den Ruin.“

Als fragwürdiges Idol wird auch Hitler diskutiert. Dass Hitler im neuen Film von Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel so unverkennbar menschelt, ist für Rafael Seligmann nur der halbe Grund für die gegenwärtige Hitler-Aufmerksamkeitsnostalgie. Denn damals wie heute liegt die eigentliche Faszination für den Führer in dessen Angebot, den Ungewissheiten der Moderne durch personifizierte Eindeutigkeit zu entkommen.

Mit Alexander von Humboldt hat die alte bundesrepublikanische Linke, verkörpert durch Hans Magnus Enzensberger, derweil ein ideologisch unverdächtiges Idol wieder ausgegraben. Dank einer Neuedition seiner Hauptwerke in der „Anderen Bibliothek“ empfiehlt sich der relativ unverbrauchte Name des Naturforschers und kosmopolitischen Universalgelehrten als Allheilmittel gegen Pisa-Schock und mentalen Provinzialismus. Da möchte auch die Zeitschrift Lettre International nicht zurückstehen. Hier feiert Karl Schlögel Humboldts „elementare, fast animalische Neugier“. Humboldt war „bei aller olympischen Klassizität ein wildes Tier der Erfahrung, fast ein Künstler, der die Regeln des Spiels selbst entwarf“. Aber in Schlögels zwiespältiger Hommage eben doch kein Vorbild, sondern eine Ausnahmeerscheinung. Nur dank des mütterlichen Erbes habe sich der wissenschaftliche Genius richtig entfalten können. In den heutigen Wissenschaftsstrukturen wäre das Multitalent kläglich gescheitert. JAN HENDRIK WULF

„Cicero“, Oktober 2004, 7 €Ľ„Lettre“, Herbst 2004, 9,80 €