Lebenslänglich im Transit

„Er lebt auf derselben Scheibe wie wir, aber nicht im selben Programm“, sagt sein Freund, der Arzt„Immerhin ist er sauber und macht keinen Lärm“, sagt die Verkäuferin der Boutique nebenan

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Die Stewardessen lassen Messer und Gabel sinken. Kauen nur noch langsam weiter. Verstummen. Und schauen auf eine hagere Gestalt, die sich lautlos vor ihnen durch die Cafeteria bewegt. Um die Beine von Sir Alfred flattert eine weite graue Flanellhose. Er vermeidet jede Berührung mit Tischen und Stühlen. Und scheint die vielen Menschen um sich herum nicht wahrzunehmen. Nicht jene, die ihn bewundernd anlächeln. Nicht jene, die flüstern: „Der hat jetzt ausgesorgt.“ Auch nicht das dreiköpfige Fernsehteam, das ihm in wenigen Zentimetern Abstand folgt und jeden seiner Schritte filmt.

Sir Alfred wohnt gleich nebenan. Sein Zuhause befindet sich im ersten Untergeschoss von Terminal 1 des Pariser Flughafen Charles de Gaulle. In einer Nische zwischen Rolltreppe, Boutiquenzone und dem rundum verglasten Innenhof, in dem sich sechs Plexiglasröhren kreuzen. In ihrem Inneren laufen Rolltreppen, die Passagiere zu den Abflugebenen in die oberen Stockwerke fahren.

Eine halbrunde Bank, mit rotem Kunstleder bezogen, ist Sir Alfreds Bett. Ein ausrangiertes Stück Flughafeneinrichtung, an dessen Rückseite zwei Kleiderbügel mit Anzughosen baumeln. Davor steht ein winziger schwarzer Bistrotisch. Rundum stapeln sich Koffer, Plastiktüten und zwei hüfthohe Kartons von Fedex. Nachts dienen sie als Sichtschutz. Tausende Reisende aus aller Welt ziehen täglich an der Nische vorbei. Manche legen eine Münze auf den Tisch. Manche ruhen sich in den Nachbarnischen zwischen zwei Flügen aus. Niemand bleibt lange. Niemand ist je so lange geblieben, wie Sir Alfred.

Merhan Karimi Nasseri, wie er eigentlich heißt, ist vor mehr als 16 Jahren in dem kreisrunden Terminal aus Rohbeton, den die Beschäftigten „Camembert“ nennen, angekommen. Damals wollte er noch nach Großbritannien reisen. Doch die Behörden der Insel wollten ihn nicht. Er versuchte es immer wieder. An Seehäfen und an Flughafen. Jedes Mal schickten sie ihn nach Kontinentaleuropa zurück. Weil er keine Papiere hatte. Im August 1988 endete seine letzte Reise am Terminal 1.

Er war 43 Jahre alt. Und stellte sich als Iraner vor, der 1945 im Norden von Teheran geboren ist, der in seinem Geburtsland Psychologie und später in Großbritannien Sozialwissenschaften studiert hat, der in den 80er-Jahren politisches Asyl in Belgien bekam und der seine leibliche Mutter in Großbritannien suchen wollte.

Seit dem hat sich Sir Alfreds Identität vielfach verändert. In den vergangenen Spätsommertagen, während Wirbelstürme über dem Südosten der USA toben, stammte er „aus Florida“. In den Jahren zuvor nannte er sich gelegentlich „Sohn einer Dänin und eines Schweden“. Bloß Iraner will er auf gar keinen Fall mehr sein. Er bestreitet auch, die Landessprache zu sprechen. Seine Tagebuchaufzeichnungen auf einem weißen DIN-A4-Block macht er auf Englisch. Wie die Interviews.

Von denen gibt er zur Zeit täglich mehrere. Weil dieser Tage ein Hollywoodfilm in die Kinos kommt, der auf seiner Geschichte basiert. Er spielt in New York, Tom Hanks spielt die Hauptrolle, und auch sonst ist alles anders als die Wirklichkeit. Aber was heißt das schon. Was wirklich wahr ist, weiß bei Sir Alfred auch niemand.

Seine alte Identität hat er im Juni 1999 ganz offiziell abgeschüttelt. An dem Tag legte ihm ein französischer Richter Aufenthaltspapiere vor – ausgestellt auf seinen Geburtsnamen. Sir Alfred verweigerte die Unterschrift. „Der bin ich nicht mehr“, begründete er. Der Rechtsanwalt, der sich jahrelang um die Papiere bemüht hatte, und der Chefarzt des Flughafens, der schon lange weiß, dass Sir Alfred zwar „auf derselben Scheibe, aber nicht im selben Programm lebt wie wir“, mussten ihn zurück zum Terminal 1 bringen.

Seither ist er eben einfach nur noch „Sir Alfred“. Dessen einziger Ausblick der gläserne Innenhof ist, auf dessen Grund sich nur selten Sonnenstrahlen verirren, um die Farn- und Bambuspflanzen zu beleuchten. Sir Alfred, der seinen Schnauzbart vor dem Spiegel der benachbarten Flughafentoiletten stutzt. Sir Alfred, der seine Bücher in dem wenige Meter entfernten Zeitungskiosk kauft und seine Burger in dem Schnellrestaurant einen Stock höher isst.

Wenn er mal nicht auf seiner Kunstlederbank sitzt und Soldaten der französischen Armee vor seiner Nische stehen bleiben, eilt die Verkäuferin aus der Modeboutique nebenan herbei, um seine Pakete und Koffer vor der drohenden Sprengung zu verteidigen. Das sind die einzigen Kontakte der eleganten Frau mit Sir Alfred. Wenn er vor ihr steht, blickt er durch sie hindurch. „Jeder Mensch hat das Recht, irgendwo zu leben“, sagt sie schulterzuckend. Aber seit die Überweisung aus Hollywood gekommen ist, weist sie Kunden, die für ihn den Geldbeutel zücken, darauf hin, dass er das eigentlich gar nicht mehr braucht.

Manchmal fordert ihn der marokkanische Lebensmittelhändler („Seit 35 Jahren in der Welt unterwegs“) auf: „Cousin, geh doch mal an die frische Luft.“ In solchen Fällen lächelt Sir Alfred sein ausweichendes Lächeln, blickt ins Leere und antwortet: „Ich habe keine Papiere, ich könnte festgenommen werden.“ Wenn ihm der Marokkaner dann lachend sagt: „Cousin, du bist doch längst im Gefängnis“, ist das Gespräch beendet. Selbstverständlich hat es auf Englisch stattgefunden. Sir Alfred antwortet immer auf Englisch – im Singsang der Einwanderer aus jener Weltregion, mit der er nichts mehr zu tun haben will.

Der Flughafen Charles de Gaulle ist eine kleine Stadt – nördlich von Paris gelegen. 75.000 Menschen arbeiten in seinen verschiedenen Terminals. Am oberen Ende der Flughafenhierarchie stehen die Piloten. Ganz unten die Putzleute. Alle haben in den letzten Jahren Sir Alfred kennen gelernt. Viele haben ihn ins Herz geschlossen. Auch wenn die meisten nie mit ihm gesprochen haben. Und obwohl sie nicht verstehen, wie er es schaffen konnte, so lange in einem Terminal zu bleiben, aus dem andere Obdachlose in null Komma nichts von der Polizei herausgetragen werden.

„Er ist wie ein Vögelchen, dem man die Flügel gestutzt hat“, sagt der Fahrer des Shuttle-Busses in einem rauen nordafrikanischen Französisch, „ein wunderbarer Mensch, dem Schlimmes widerfahren sein muss.“ Mehrfach hat er dem Dauergast im Untergeschoss einen Kaffee ausgegeben. Jetzt hofft er, dass Sir Alfred endlich raus kommt – „dank Hollywood“, sagt er grinsend.

„Er hat es unter widrigen Umständen geschafft, würdig zu bleiben. Er ist sensibel, mutig und gepflegt“, sagt der Apotheker vom Flughafen. Der rundliche Mann arbeitet zehn Schritt von der Nische entfernt, in der Sir Alfred wohnt. Seit vier Jahren sind sie Nachbarn. Manchmal plaudern sie miteinander. Er wünscht ihm „von Herzen, dass er es eines Tages schafft, abzureisen“.

„Er ist ein Arztsohn wie ich. Er hat ein britisches Phlegma. Und er ist sympathisch“, sagt der Chefarzt des Flughafens, Philippe Bargain. Seit 35 Jahren arbeitet er hier. Er hat Alfred an dessen ersten Tag am Terminal 1 getroffen. Seither untersucht er ihn jede Woche und wurde sein wichtigster Unterstützer. Bei ihm landete vor ein paar Jahren auch der Telefonanruf aus Hollywood: „Sind Sie der Sekretär von Sir Alfred?“

In den ersten Jahren, als es Alfred noch besser ging, hat der Arzt ihn manchmal durch das nächtliche Paris gefahren. Doch damit ist es lange vorbei. „Heute dreht Alfred im Leeren“, sagt Philippe Bargain. Darüber, „ob und in welchem Zustand“ Alfred je den Flughafen verlassen wird, mag der Arzt keine Prognosen abgeben.

Seine Nachbarn glauben nicht daran, dass er noch einmal gehen wird. Die Friseuse tippt mit dem Finger an die Stirn. Sie sagt: „Immerhin ist er sauber und macht keinen Lärm.“ Die Kosmetikerin sagt: „Er hat hier sein ideales Plätzchen gefunden.“ Und die elegante Verkäuferin aus der Boutique, die Sir Alfred von morgens bis abends durch ihre Schaufensterscheibe beobachten kann, ist sicher, dass sein Leben in Terminal 1 enden wird.

Jahrelang hat Sir Alfred mit Stöpseln im Ohr gelebt. Gegen das Dingdongding aus den Lautsprechern und die Abflugansagen. Seit der US-amerikanische Regisseur Stephen Spielberg die Rechte an seiner Geschichte, an seinem Leben im Untergeschoss von Terminal 1, gekauft hat, trägt er die Stöpsel nicht mehr. Jetzt gibt er Interviews. Mit kaum hörbarer monotoner Stimme antwortet er auf die Journalistenfragen. Wenn er überhaupt etwas sagt. Seine Auskünfte variieren. Die Höhe des Schecks von Spielberg beziffert er einmal mit 200.000 und ein andermal mit 300.000 Dollar. Dann erklärt er: „Über Geld spreche ich nicht.“ Wenn ihm eine Frau gegenübersitzt, guckt er an ihr vorbei. Oder auf seine Fingernägel.

Die Ereignisse der letzten 16 Jahre sind an Sir Alfred vorbeigegangen, ohne dass er von ihnen Notiz genommen hätte. Auch nicht vom Ende der französischen Concorde, die im Juli 2000 wenige hundert Meter von seiner Nische entfernt auf den Boden krachte. Das Land, in dem er lebt, interessiert ihn nicht. Und die Menschen um ihn herum, die Nachbarn aus der Boutiquenzone und jene, die versuchen, sein Leben zu erleichtern, auch nicht. „Ich sehe täglich tausende Leute“, sagt Sir Alfred, „die sind mir egal.“ Er liest. Er gibt Interviews. Und er wartet ab.

„Der Film hat nichts an meinem Leben geändert“, versichert er. Auf den Filmplakaten, die auch auf dem Flughafen aushängen, steht der Satz: „Er hat das Leben vor sich.“ Sir Alfred wird im nächsten Jahr 60. Er hat keine Freunde. Keine Familie. Und keine Papiere. Bloß ein paar hunderttausend Dollar auf einem Konto der Postbankzweigstelle im Untergeschoss von Terminal 1. Aber eines Tages will er nach Amerika ziehen: „Dort werde ich eine Frau haben und Kinder.“ Wer ihn nach seiner gegenwärtigen Situation befragt, erhält die Auskunft: „Ich bin auf der Durchreise.“