Verlorene Generation

Zwei Urenkel der Nihilisten, ein trauriger Deutschlehrer, ein Elitegymnasium und die Melancholieder Provinz: Juli Zeh geht ihrem „Spieltrieb“ nach und stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens

VON ANNE KRAUME

So sieht man sich wieder: Wir hatten Jessie und Shershah aus Juli Zehs erstem Roman „Adler und Engel“ längst tot geglaubt – Jessie hatte sich beim Telefonieren eine Kugel in den Kopf geschossen, und ihr Freund Shershah war überfahren worden. In Zehs neuem Roman „Spieltrieb“ haben sie noch einmal einen sekundenschnellen Auftritt, tauchen kurz ins Licht einer Hausbootparty, begegnen dort Ada und Alev, den Protagonisten des neuen Romans, bleiben für die beiden aber namenlos und ohne Geschichte.

„Adler und Engel“ erschien 2001 und war zwischen Leipzig und Wien, in der Welt der Balkankriege und des internationalen Drogenhandels angesiedelt. Die Handlung von „Spieltrieb“ ist dagegen in die beschauliche Enge eines Bonner Villenviertels nach dem Regierungsumzug verlegt. Die Protagonisten sind nicht mehr bei der UNO, sondern an einem rheinischen Privatgymnasium, sie koksen nicht mehr täglich, sondern kiffen maßvoll. Die Abgründe, die sich in Zehs neuen Roman auftun, wollen dennoch genauso tief sein wie in ihrem gefeierten Erstling.

Ada ist Schülerin am Bonner Gymnasium Ernst Bloch. Sie hält sich am Rand und ist intelligent, unangepasst und auf intelligente, unangepasste Art und Weise aufsässig. Intellektuell gewachsen ist ihr eigentlich nur der Geschichtslehrer Höfling, genannt Höfi – und eben Alev, der neu in die Klasse kommt, als einziger Schüler darauf besteht, von den Lehrern gesiezt zu werden, und der fortan in der Oberstufe die Fäden in der Hand hält. Ada und Alev – damit fängt alles an. Im Leistungskurs Deutsch lesen sie Musils „Mann ohne Eigenschaften“, in der Welt läuft der zweite Irakkrieg, und Ada erlebt das, was man konventionell vielleicht eine erste Liebe nennen würde, nur dass es hier eben nicht wirklich konventionell zugeht.

Die Handlung des Romans ist eine Versuchsanordnung, und es geht um die ganz großen Fragen: Sinn, Werte, Lebensinhalt – kann es das noch geben? Kann man noch unterscheiden zwischen gut und böse, wenn es das alles nicht mehr gibt? „Die Suche nach Sinn ist reine Selbstbeschäftigung“, erklärt Alev einmal. „Man kann sich damit die Zeit vertreiben. Man kann es auch lassen.“ Die Urenkel der Nihilisten, so nennen die beiden sich selbst und ihre Generation, und Ada sagt von sich, in den Neunzigerjahren wäre sie magersüchtig oder drogenabhängig geworden oder beides – aber für das, was sie jetzt, Anfang des neuen Jahrtausends geworden sei, gebe es noch kein Wort. Spätestens nach dem Selbstmord von Höfling, der für sie eine Art letzte moralische Autorität gewesen ist, machen die beiden Ernst mit ihrer spielerischen Versuchsanordnung.

Versuchsanordnung – das ist zunächst durchaus wörtlich zu verstehen. In „Adler und Engel“ hatte Juli Zeh ihre Figuren noch abtauchen lassen in die Erinnerung und den Nachvollzug von Dingen, die längst nicht mehr zu ändern waren. In „Spieltrieb“ sind es jetzt die Protagonisten selbst, die die Handlung bestimmen und die Ereignisse ins Rollen bringen. Ada und Alev möchten die Praktikabilität moderner Spieltheorien im Alltag erproben, und es geht ihnen dabei nur um die Befriedigung ihres Spieltriebs.

So verführt Ada auf Alevs Geheiß den jungen polnischstämmigen Deutschlehrer Smutek, Alev filmt die beiden beim Sex, und fortan haben sie Smutek in der Hand. Jeden Freitagnachmittag muss er sich jetzt in der Sporthalle einfinden, jedes Mal schläft er wieder mit Ada und jedes Mal wird er wieder von Alev gefilmt. Ab und zu erpressen die beiden etwas von Smutek, Geld, bessere Noten – aber das ist mehr ein angenehmer Nebeneffekt als Sinn dieser Übung. Worin dieser Sinn bestehen soll, ist schwer zu sagen: Adas und Alevs Nihilismus besteht ja gerade darin, dass er nicht nur die Gültigkeit von Werten verneint, sondern ausdrücklich keine Ziele mehr kennt.

Nihilistische Schüler, traurige Lehrer, eine sich elitär gebende Schule, und über all dem der melancholische Schimmer der westdeutschen Provinz – das alles ist weniger banal, als es diese bloßen Stichworte vermuten lassen. Es geht um die Überschreitung von Grenzen, und um das Vertrauen in die eigene Vernunft. Die Geschichte von Ada, Alev und ihrem Lehrer Smutek ist deshalb nicht banal, aber sie ist sehr konstruiert, und das könnte man Juli Zeh zum Vorwurf machen: Solche nihilistischen Schüler und traurigen Lehrer, die sich auch noch gegenseitig so deutlich erkennen, gibt es an keinem westdeutschen Privatgymnasium – so oder ähnlich würden wir dann argumentieren. Wenn wir nicht manchmal an den konstruierten Geschichten besonders viel Freude hätten, vor allem dann, wenn sie so intelligent konstruiert sind wie diese.

Jessie und Shershah aus „Adler und Engel“ hatten an der Erzählung ihrer Geschichte nicht mehr mitgewirkt – erzählt wurde von dem Juristen Max, der Jessie geliebt hat und nach ihrem Tod seine Version der Dinge berichtet. In „Spieltrieb“ ist es wieder eine Juristin, die erzählt, aber sie hat mit dem Geschehen nichts zu tun, sondern beurteilt es von außen und aus beruflichen Gründen. Ihrer Erzählung merkt man aber in jedem Absatz an, wem sie ihre Informationen verdankt – der Eloquenz von Ada und Alev. „Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht – erst recht“, schreibt sie. So gesehen ist es kein Wunder, dass Alev am Ende immerhin seine Eloquenz einbüßt.

Juli Zeh: „Spieltrieb“. Schöffling & Co, Frankfurt 2004. 600 S., 24,90 Euro