Erkenne die diskursive Lage!

Hinter unserem Rücken arbeiten unsere Begriffe: Das „Glossar der Gegenwart“ leistet Gesellschaftskritik durch Diskursanalyse und bietet einen recht hohen Durchschauungsfaktor. Deutlich abgekühlt werden dabei emphatische Verwendungsweisen von Begriffen wie Wellness oder auch Projekt

von DIRK KNIPPHALS

Wie kreativ so eine moderne Gesellschaft doch ist! Und wie schöne Zufälle sie produzieren kann! Als ich jedenfalls dieses „Glossar der Gegenwart“ in einem Straßencafé las, lief ein großer Hund vorbei, der seine eigene Leine im Maul trug. Wie stolz er dabei aussah! Um genau solche Registrierung von Techniken der Selbstbeherrschung geht es in diesem Band. Und die Leine, die die Gesellschaftsmitglieder dabei im Maul tragen, sind zunächst ganz harmlos aussehende sprachliche Wendungen.

Um das zu erklären, kann man sich an den Begriff des Glossars halten. „Meyers Lexikon“ definiert diese Textsorte als „erklärendes Verzeichnis schwer verständlicher Wörter“. Dieses „Glossar der Gegenwart“ aber verfährt anders, im Grunde genau entgegengesetzt. Es verzeichnet Begriffe, die sich scheinbar von selbst verstehen – beziehungsweise die sich, wie es im Vorwort heißt, durch „fraglose Plausibilität“ auszeichnen. Darunter finden so unscheinbare Begriffe wie Beratung, Intervention und Wissen. Aber auch diese typischen, modern klingen sollenden Wendungen wie Empowerment, Monitoring, Shareholder Value und Virtualität, wie sie Politiker und Manager gerne verwenden. Die Basisannahme des Bandes besteht dabei darin, dass solche Begriffe nicht unschuldig sind. Sie geben Rahmen und Konzepte für Politik, aber auch für individuelles Verhalten vor.

Das hat zunächst einmal eine gewisse Evidenz für sich. Wer etwa ständig in einem emphatischen Sinn von „Projekten“ redet (also mindestens jeder zweite Kreative unserer Tage), wird sich von der Idee langfristiger Lebensläufe verabschiedet haben. „Mein nächstes Projekt ist meine neue Wohnung“: Solche Sätze hört man ständig. Indem die Autoren dieses Glossars – einige Professoren darunter, in der Regel aber eher junge, postmodern sozialisierte Soziologen und Kulturwissenschaftler – ihnen nachgehen, wollen sie nicht Sprachkritik, sondern gleichsam durch die Sprache hindurch Gesellschaftskritik leisten. Beim Stichwort „Projekt“ ist das denn auch der Fall.

Das alles ist mehr als nur eine originelle Idee, einen anspruchsvollen Sammelband zu füllen. Was dies Glossar so interessant macht, ist der Versuch, Alltagsbeobachtungen mit Theorieansätzen zu verknüpfen. Insgesamt 44 Begriffe werden dabei jeweils auf etwa sechs Seiten erläutert. Wie das so ist: Manchmal hört man allzu deutlich akademisches Seminarwissen dahinter rascheln. Es finden sich aber auch wirklich brillante Analysen darunter.

Etwa unter dem Stichwort „Wellness“ – dessen Bearbeitung war sowieso längst fällig. Hier wird herausgearbeitet, dass man es nicht einfach mit einer geschickten Kombination von Gesundheitsvorsorge und Konsum zu tun hat. Vielmehr reagiert Wellness viel weitreichender auf die vielfältigen Gefährdungen, die unsere Konsumwelt bereit hält, indem ein sorgfältiger, gleichsam nachhaltiger Konsum in Anschlag gebracht wird.

Oder wie es in dem Band heißt: „Wellness-Konsumenten hingegen maximieren ihr eigenes Humankapital – sie sind keine passiven Nutzer von Wohlstandsgütern, sondern sorgfältige Manager jener Risiken, welche die Wohlstandskultur produziert.“ An einer ganz anderer Stelle fällt der Satz: „Befreiung von der Unmündigkeit fällt hier zusammen mit der Herrschaft über sich selbst.“ Das gilt auch im Wellness-Zusammenhang. Wellness, so wird deutlich, befreit einen davon, unmündiger, passiver Konsument zu sein – aber um den Preis, Herrschaft über sich selbst auszuüben. Man muss eben nicht allein täglich Gymnastik machen, sondern diese Gymnastik auch noch toll finden. Nicht genug, dass man sich dabei als Humankapital behandelt! Der an sich warme Begriff Wellness wird so als kalte Praktik der Sozialintegration gedeutet.

Das ist ein typisches Vorgehen in diesem Glossar. Es geht um die Abkühlung der Emphase, die sich mit der Verwendung solcher moderner Begriffe in der Gesellschaft gern verbindet. Die Verheißungen, für die sie stehen, wird zwar gesehen – gegen Wellness gibt es im Grunde ja gar nichts zu sagen –, aber mit Grundmisstrauen behandelt: Ein rein zweckrationales Selbstverhältnis steht eben bei Wellness-Konzepten oft dahinter und überhaupt kann man dabei ja durchaus das Gefühl entwickeln, irgendwie vom Allgemeinen, von der Gesellschaft erwischt worden zu sein. Es sind diese dunklen Seiten dieser Begriffe, die herausgearbeitet werden. Dieses Glossar, so unscheinbar es sich zunächst gibt, will so etwas wie der Schatten der modernen Selbstbeschreibungen unserer Gesellschaft sein.

Herausgegeben wurde der Band von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke. Das ist das gleiche Soziologenteam, das vor vier Jahren den stw-Band „Gouvernementalität der Gegenwart“ herausbrachte. Gouvernementalität, dieser Ansatz des späteren Michel Foucault, die Formen der Regierung bis in kleine und kleinste Verästelungen des gesellschaftlichen Alltags hinein zu verfolgen, ist denn auch so etwas wie der innere Kompass, dem die in dem Glossar vorgelegten Analysen folgen. Die allermeisten operieren in einem gut foucaultisch von den Begriffen Körper, Ökonomie, Selbst und Kontrolle aufgestellten Viereck.

Wie von selbst fallen dabei – etwa anlässlich der Telekom-Werbung – Einsichten in das „Profil des schlauen Konsumsubjekts“ ab (unter dem Stichwort „Intelligenz“) oder an anderer Stelle Erkenntnisse über die egalitären Tendenzen des amerikanischen Setzens auf Kreativität, gegenüber alteuropäischen Genieansätzen nämlich (unter „Kreativität“). In vielen Bereichen vermag die theoretische Disposition auf Diskursanalyse also tatsächlich Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Ein paar Nachteile hat sie aber auch. So scheint es manchmal, als ob schon die Verwendung eines Begriffs alle negativ damit verbundenen Seiten wie von selbst nach sich zieht. Unter „Nachhaltigkeit“ wird etwa herausgearbeitet, wie eine an sich gute Idee – nur so viel Wald zu schlagen, wie auch nachwächst – zu vielfältigen Kontrollmechanismen und sogar zu einer Art gesteigerten Kolonialismus gegenüber Bewohnern der Dritten Welt führt. Dass es aber auch gute wie schlechte Verwirklichungen des Nachhaltigkeitskonzeptes geben kann, muss hier ausgeblendet werden.

Dann nervt es manchmal schlicht, wenn alle zehn Seiten die in den Begriffen liegenden erweiterten Handlungsmöglichkeiten, wenn die Verheißungen der Selbstverwirklichung, die sie ausdrücken, als gesteigerte Mechanismen der Macht entlarvt werden. Es mag ja sein, denkt man etwa beim Begriff „Flexibilität“, dass die Flexibilisierung unseres Lebens etwas mit ökonomischen Zwängen zu tun hat. Aber so unflexibel leben wie die Generationen vor einem will man eben dennoch erst recht nicht.

Was dieses Glossar aber unbedingt bietet: einen hohen Durchschauungsfaktor. Es gibt vielfältige Hinweise auf die Widersprüche und die Entfremdungen, die die moderne Gesellschaft einem auszuhalten abverlangt. Damit trägt es dazu bei, auf hohem theoretischen Niveau an einem „Erkenne die Lage!“ zu arbeiten. Und die Lage ist: Hinter unserem Rücken arbeiten unsere Begriffe. Zum Glück hält unsere Gesellschaft – so durchökonomisert sie auch sein mag – eben auch immer wieder Möglichkeiten bereit, sie zu analysieren: Möglichkeiten wie dieses Glossar.

Der schwarze Hund mit der Leine im Maul hat sich dann übrigens bald nach seinem Frauchen umgeguckt, die ein paar Meter hinter ihm ging. So weit war es mit seiner Selbstbeherrschung also nicht her. Dass dagegen die Selbstbeherrschung der modernen Subjekte unserer Gesellschaft der Selbsterkenntnis breiten Raum einräumt, das zeigt dieses Glossar eben auch. Es zeigt es ganz praktisch: indem es Selbsterkenntnis vorführt.

Ulrich Bröckling u.a. (Hg.): „Glossar der Gegenwart“. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004. 320 Seiten, 12 Euro