Wesentliche Verschiebung

Das neue Europa als Hilfskonstruktion: Die Ausstellung „E.U. positive“ in der Akademie der Künste gewinnt, weil sie nicht nach dem Verbindenden sucht, sondern auf die einzelnen Konzepte setzt

VON BRIGITTE WERNEBURG

Der eine Euro, den die Zeitung kostet, die in der aktuellen Ausstellung der Akademie der Künste als Katalog dient, ist eine gute Investition. Schon wegen des Beitrags von Hans Knoll, Galerist in Wien und Budapest. „Und schon wieder ist es passiert“, heißt sein Artikel, in dem er sich über „Die geographisch begründeten Gruppenausstellungen“ mokiert. Stellvertretend artikuliert er den leicht genervten Zustand, in dem man schon wieder in eine solche Ausstellung schlurft. Dieses Mal heißt sie „E.U. positive“ und verspricht „Kunst aus dem neuen Europa“, den Ländern also, die im Mai 2004 der EU beitraten.

Doch was für ein Kriterium soll nun ausgerechnet diese Veränderung der politischen Geografie für die Kunst liefern? Und warum sollten ausgerechnet Künstler und Künstlerinnen die wahren Repräsentanten ihrer Länder sein, falls eher diese als die Kunst vorgestellt werden sollen? Ist die geografisch begründete Gruppenausstellung die einzig denkbare Hilfskonstruktion, die Künstler aus den periphereren Kunstszenen in unser Blickfeld geraten lässt? Es ehrt jedenfalls Matthias Flügge und Eckhardt Gillen, die Kuratoren von „E.U. positive“, dass das omnipräsente Phänomen hier problematisiert wird.

Grund dazu gibt es, denn die Arbeiten der 42 Künstler und Künstlerinnen, die „E.U. positive“ vorstellt, lassen sich nicht über einen Kamm scheren, auch wenn die Standards der internationalen Kunstszene offenkundig auf sie Einfluss haben. Etwa in der Präsentation der Fotoarbeiten, dem heftigen Gebrauch von Video oder dem noch avancierteren Medienmix von Skulptur, Malerei, Fotografie, Video und Computerinstallation, wie ihn Marko Mäetamm & Kaido Ole für die irrwitzige Geschichte von „John Smith“ (2003) einsetzen. John Smith wird ihr Alter Ego und ihre conceptual persona, in der sie den Status des Künstlers – als sonderbar – untersuchen und ihn gleichzeitig als vollkommen alltäglich unterminieren.

So sind es einzelne Konzepte, die für die Ausstellung einnehmen. Etwa Aneta Mona Chisas Reaktion auf schon kanonisch gewordene Experimente der Kunst des 20. Jahrhunderts. Eine Videoarbeit und eine Fotografie Chisas ahmen ihre Vorbilder, Valie Exports „Tap and Touch Cinema“ (1968) und Marcel Duchamps „La Mariée mise à nu par ses célibataires, même“ (1915-23) recht getreu nach. Freilich mit je einer wesentlichen Verschiebung. Einmal lässt sich nun ein Mann hinter dem Theatervorhang des kleinen, vorgeschnallten Tastkinos betatschen, im anderen Fall sorgt das große Farbfoto für eine neue absurde Klarheit.

Eine repräsentative Darstellung der jüngeren Kunstgeschichte der neuen EU-Länder jedenfalls wollten die Kuratoren mit den von ihnen ausgewählten Künstlern und Künstlerinnen nicht organisieren. Eher sollte es um eine Momentaufnahme gehen, die bald schon ganz anders aussehen könnte. Doch manchmal können sich Momentaufnahmen erstaunlich geschichtsträchtig präsentieren. Aus nicht weniger als 17.160 Momentaufnahmen, die sie in den Jahren 1998 bis 2004 aus dem Fernsehen abfotografierte, montierte die polnische Künstlerin Sofia Kulik ihren 22 Meter langen Bilderfries „From Siberia to Cyberia“. Es ist ein riesiges Assoziationsfeld, das die mythischen Weiten des Verbannungsortes Sibirien mit der virtuellen Welt des Londoner „Cyberia Cafés“ verbindet und gleichzeitig, dank der ausliegenden Kommentar-Kladden, ein exakt bestimmbarer und identifizierbarer Bildbericht über den Lauf der Welt, von Stalin angefangen bis hin zur Musterung Saddam Husseins nach seiner Entdeckung durch amerikanische Soldaten im Dezember 2003.

2003 entdeckte auch Kaspar Gobas mit Seda, einem Unternehmen und einer Stadt gleichermaßen, ein aus der Erde gebuddeltes Wrack. Freilich in einem besonderen Sinn. 1952 begann hier der Torfabbau im industriellen Maßstab. Zu diesem Zweck wurden Arbeiter aus der ganzen Sowjetunion nach Seda umgesiedelt. Gobas Fotoreportage über das „Moorland“ zeigt nun den staunenerregenden Mikrokosmos einer 2003 noch immer existenten Sowjetunion. „Es ist eine Gesellschaft im Stillstand, die noch den gleichen Lebensstil und die gleichen Technologien wie in der Sowjetzeit pflegt“, sagt Kaspar Goba. Sozusagen eine gut konservierte, dann aber doch recht lebendige Moorleiche. Die unbedingt sehenswert ist.

Bis 7. November, Hanseatenweg 10, Mo. 14–20, Di.–So. 11–20 Uhr, umfangreiches Filmprogramm in Ausstellung, 11.30–20 Uhr