berliner szenen Blindführung

Im Kopf malen

Gucken Sie mal genau hin, sagt die Frau im dunklen Kostüm, das Rosa der Seerosen, da sehen Sie den Pinselstrich, der Bewegung simuliert. Wir gucken genau hin. Auf eine leere Wand mit kleinen Bohrlöchern, frankiert von ein paar einsamen Klebestreifen. Denn die MoMA-Bilder sind längst dick eingepackt und schippern zurück nach Hause.

Ellen Kobe führt trotzdem durch die Neue Nationalgalerie. Die Künstlerin hat sieben Monate Besucher von Cézanne zu Matisse, von Pollock zu Rauschenberg geleitet, hat sich begeistert den Mund fusselig interpretiert über Farben, Formen, Kontraste, Abstraktion, Dimensionen und Bedeutung. Am Montag hat sie aus dem, was vom MoMA übrig blieb, ein eigenes Kunstwerk geschaffen: eine Führung ohne Werke, aber mit Worten, eine Suche nach der Antwort auf die Frage, wo so ein Bild eigentlich entsteht. Im Atelier, im Kopf des Künstlers oder im Kopf des Betrachters? So spazieren wir durch die riesigen Räume in Mies van der Rohes Berliner Sahnestück, hören Geschichten und Analysen über moderne Kunst und beobachten erstaunt, dass es funktioniert – wenn Ellen Kobe erzählt, wie Gauguin seiner 13-jährigen Geliebten die verdrehte Körperhaltung einer ägyptischen Gottheit gemalt hat, sieht man die beige-braune, bekannte Figur, zwar nicht an der Wand, doch irgendwo anders. Wenn sie Reinhardts abstraktes Schwarzbild auffächert, versucht man, sich die diffizile Farbigkeit selbst im Kopf anzumixen. An den mächtigen Wänden meint man, in leichten Schatten die Rahmen der Bilder zu erkennen. Kobes Blindführung hat den Effekt, den gute Freunde haben: Man hört gerne zu und wird noch einmal schrecklich neugierig, auch wenn man die Geschichte eigentlich schon kennt. JENNI ZYLKA