Jetzt wird zurückgejammert

AUS GELSENKIRCHEN ROBIN ALEXANDER

Von dieser Stadt gibt es ein altes, mächtiges Bild: Gelsenkirchen-Schalke. Doch zu Kohle, Stahl und Fußball ist in diesem Jahr – irgendwann zwischen Hartz-Debatte, Montagsdemonstrationen und den Kommunalwahlen in NRW – eine neue, seltsame Vorstellung hinzugetreten: Gelsenkirchen liegt plötzlich in der ehemaligen DDR. „Uns geht es auch nicht besser“, textet der NDR im Sommer über Gelsenkirchen. Für seinen Artikel über Hartz IV reiste der Korrespondent der New York Times nicht nur nach Bitterfeld oder Dessau, sondern auch nach Gelsenkirchen. Sogar die Ost-West-Wochenzeitung Freitag stellte entsetzt fest: „Eine Stimmung wie im Osten – und das seit 30 Jahren.“

Stimmt das denn?

Rico Pierl müsste wissen, ob die Vergleiche stimmen. Vor 27 Jahren in Oschatz/Sachsen geboren, lebt der schlaksige junge Mann mit Brille seit 2002 in Gelsenkirchen. Vorher hat er in Cottbus Tierpfleger gelernt, dann in Zoos in Luxemburg und Gelsenkirchen vorgesprochen. „Ich habe mich für Gelsenkirchen entschieden, weil mir die Situation des Zoos interessanter erschien.“ Interessant ist eine nette Umschreibung. Der „Ruhrzoo Gelsenkirchen“ ist wohl der schlimmste Zoo Deutschlands. „Die Schimpansen sind verhaltensgestört, weil ihr Käfig viel zu klein ist“, erklärt Rico, als die Affen mal wieder eine Schulklasse mit Kot bewerfen.

Ob Affenhaus, Tapirgehege oder Lamastall: Im Ruhrzoo ist alles zu klein – hier wurde seit Jahren gespart. Eine Firma für Tiertransporte und Tierhandel gründete diesen Zoo, hat hier ihre lebende Ware präsentiert und später weiter verkauft. Erst als der Zoo wegen neuer Tierschutzbestimmungen irgendwann unrentabel wurde, übernahm ihn die Stadt, die das Gelände nun sanieren muss. In Gelsenkirchen hat der Staat immer schon hinter Unternehmen hergeräumt: hat riesigen Halden begrünt, als der Bergbau starb, und die Flächen entgiftet, nachdem die Werke schlossen.

„Ich hatte sofort den Eindruck, dass die Modernisierung in Cottbus weiter fortgeschritten ist“, sagt Rico Pierl. Ist also alles noch schlimmer?

„Gelsenkirchen – wie im Osten? Das ist doch alles Quatsch!“, schimpft Oliver Wittke. Der 37-jährige CDU-Politiker ist Oberbürgermeister der 272.000 Einwohner und gerade sehr nervös. Am Sonntag muss er sein Amt in einer Stichwahl verteidigen, und kein Geringerer als der SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering hat einer Zeitung gesagt, er habe es als „sehr befriedigend empfunden“, dass Wittke in der ersten Wahlrunde gescheitert sei: „Denn der zieht durch seine Stadt und erzählt den Leuten, jedes Schlagloch sei vom Osten, der das Westgeld verbrät, verschuldet.“

Wittke schlägt spontan zurück: „Müntefering ist einer der schlimmsten Brunnenvergifter im Land.“ Er fühlt sich missverstanden: „Alles, was ich wollte, war, dass gleich behandelt wird, was gleich ist.“ Meint: Wittkes strukturschwaches Gelsenkirchen soll genauso gefördert werden wie der strukturschwache Osten und nicht jedes Jahr selbst 30 Millionen Euro dorthin überweisen. Das ist Wittkes Thema, seit im Jahr 2001 der Solidarpakt II verlängert wurde. Der junge, ehrgeizige Oberbürgermeister traf damals eine Stimmung im Volk, als er immer wieder doppeldeutig erklärte: „Wir sind bereit, für jede Stadt im Osten zu zahlen, der es schlechter geht als uns.“

Anfangs wurde Wittke dafür gescholten: „Die CDU bleibt die Partei der Einheit“, herrschte ihn sein Landesvorsitzender Jürgen Rüttgers an. Das ist ein paar Jahre her. Heute ist Wittke einer von Rüttgers’ Stellvertretern, auch im Deutschen Städtetag fungiert er als stellvertretender Vorsitzender. Sein Thema ist gesellschaftsfähig geworden: Im gerade zu Ende gegangenen Kommunalwahlkampf konnten Politiker aller Parteien in NRW der Versuchung nicht widerstehen, auf den angeblich undankbaren Osten zu zeigen.

Während Wittke daran erinnert, dass er Trendsetter war, beruhigt er sich langsam: „Den Brunnenvergifter für Müntefering nehme ich zurück. Schreiben Sie stattdessen: Er zeigt sein schlichtes sauerländisches Gemüt.“

Jetzt zählt Wittke auf, was er erreicht hat mit seinen Ostvergleichen: Bei den Nachbesserungen für Hartz IV kamen Hilfen für alle Regionen heraus, die mehr als 15 Prozent Arbeitslosigkeit haben – nicht mehr nur für den Osten. Seit zwei Jahren gibt es ein Stadtumbauprogramm West – nicht länger nur eins für den Osten. Bald wird der Bahnhof von Gelsenkirchen saniert – nicht mehr nur die Bahnhöfe von Leipzig und Weimar.

Der Bericht über seine Erfolge hat Wittke friedlich gestimmt: „Das sauerländische Gemüt nehme ich auch zurück. Schreiben Sie: Müntefering ist im Raumschiff Bonn abgehoben und kennt die Befindlichkeiten im Ruhrgebiet nicht mehr.“

Gar nichts dran?

Sven Kmetsch arbeitet wirklich in einem Raumschiff. Es ist auf dem „Berger Feld“, einem früher grünen Hügel gelandet: Eine futuristische Schüssel aus Stahl und Glas und Lärm: Nirgendwo in Europa ist Fußball lauter als in der Arena auf Schalke – dem Arbeitsplatz des Fußballprofis Sven Kmetsch, vor 34 Jahren in Bautzen an der polnischen Grenze geboren, zum DDR-Jugendnationalspieler ausgebildet bei Dynamo in Dresden. Am besten erreicht man ihn übers Autotelefon kurz nach dem Training. Dann fährt er aus dem Raumschiff nach Gladbeck, einem der grünen Orte am Rand des Ruhrgebiets, bei denen niemand auf einen Ostvergleich käme. Gelsenkirchen sieht er dabei nicht einmal durch die Heckscheibe: An Autobahnen mangelt es nicht im Revier.

„Schon in der DDR wurde uns dieses Bild vom Ruhrgebiet vermittelt“, erinnert sich Kmetsch: „Dreck, Ruß, Kohlenpott. Damals dachte keiner, das sei ähnlich wie in der DDR.“ Heute kann er ein paar Gemeinsamkeiten entdecken: „Die Leute sind direkt und ehrlich, und es ist hier wie im Osten schwer, Arbeit zu finden.“ Was Kmetsch über Gelsenkirchen weiß, weiß er von seiner Frau. Die wurde hier geboren – allerdings hat sie bis heute einen spanischen Pass: typisch in der Stadt der Gastarbeiter und Gastarbeiterkinder.

Wer ist schuld?

Von Türken, Griechen, Italienern, Spaniern und Polen weiß Frank Baranowski wie jeder Lehrer im Ruhrgebiet viel. Vom anderen Deutschland weiß er nichts: „Ich war nur in Berlin – sonst noch nirgendwo im Osten.“ Der 35-Jährige in Jackett und Jeans wirkt ein bisschen zu angespannt, um nett zu plaudern. Seit ein paar Jahren ist Baranowski Landtagsabgeordneter, am Sonntag soll er den in seiner SPD regelrecht verhassten Wittke stürzen. Dessen Ostvergleiche kamen ihm im Wahlkampf sehr gelegen: „Ein einmaliger Vorgang: Der eigene Bürgermeister redet die Stadt schlecht, um sich selbst überregional bekannt zu machen.“

Der Osten steht im Ruhrgebiet für „schlecht“. „Dunkeldeutschland“ nennen sie hier die neuen Länder. Mit Dunkeldeutschland wird keiner gerne verglichen: „Die Süddeutsche Zeitung hat mich nach ‚Elendsquartieren‘ gefragt und ein amerikanischer Journalist sogar nach ,Slums‘ “, entrüstet sich Baranowski. So etwas gebe es aber nicht in Gelsenkirchen.

„Im Großen und Ganzen ist unser Strukturwandel unter Regie der SPD doch geglückt“, sagt Baranowski und verweist auf die vermeintliche Leistung seiner Partei: „Schauen Sie auf die Industriegebiete nach Nordfrankreich oder nach Wallonien: Das sind leer geräumte Gegenden.“ Das Ruhrgebiet hingegen sei auf gutem Wege: „Da werden wir uns doch nicht verrückt machen lassen, weil die in Leipzig mittlerweile goldene Gullydeckel haben.“

Auf gutem Weg ist auch der schlimmste Zoo Deutschlands, meint Rico Pierl. Ein paar Meter hinter den zu kleinen Gehegen klettert er über Holztreppen auf ein Podest, um eine riesige Baustelle zu überschauen: Rundherum wird gebaut. Aus dem maroden Ruhrzoo soll die ZOOM Erlebniswelt werden: Mit Bötchen wird man auf einem „Afrika-See“ an echten Flusspferden vorbeipaddeln; die Löwen bekommen einen Felsen, und es wird nicht nur größere Käfige, sondern richtigen Auslauf geben für die heute noch verhaltensauffälligen Schimpansen.

Tierpfleger Pierl, ein Kind des Aufbau Ost, staunt über den Umbau West: „In Cottbus konnten wir eine Mauer nur dann streichen, wenn eine Baufirma die Farbe gespendet hat.“ In Gelsenkirchen läuft das anders, hier bleibt kein Stein auf dem anderen: „Ein Zoo von null auf hundert umstellen. Das finde ich klasse.“ Der Aufwand wird allerdings auf Steuerzahlerkosten betrieben: 85 Millionen Euro sind eingeplant. 80 zusätzliche Arbeitsplätze sollen entstehen. Damit sich das Konzept trägt, sind eine Million Besucher im Jahr erforderlich. Bisher waren es keine 250.000 pro Jahr. Und es gibt viele schöne Zoos in der Umgebung.

Familie Mauerbauer

Die neue Vorstellung von Gelsenkirchen – die Heimat von Kohl, Stahl und Fußball soll plötzlich etwas mit dem Osten zu tun haben – hat auch in der Stadt selbst Fuß gefasst. Jedenfalls in einer Eigentumswohnung in Gelsenkirchen-Bulmke. Dort wohnt Familie Beckerherm: Vater, Mutter und zivildienstleistender Sohn erklären freundlich: „Wir möchten die Mauer wiederhaben.“ Dafür haben sie den Gelsenkirchener Ortsverein der Partei „Die Partei“ gegründet.

„Die Partei“ ist eigentlich eine Aktion der Satirezeitschrift Titanic, und bis zum Schluss des Gesprächs wird nicht klar, wer hier wen verarscht: die Titanic die Beckerherms oder der 20-jährige Ortsvereinsgründer David seine Eltern. Oder alle zusammen den Reporter. Jedenfalls nennen die drei auf dem heimischen Ledersofa zwischen Flachbildschirm und Eichenschrank nun Gründe, Deutschland vierzehn Jahre nach der Einheit erneut zu teilen.

„Besonders das Ruhrgebiet hat unter der Vereinigung gelitten“, sagt David ernst, und seine Mutter Marlies stimmt zu: „Unser Geld ist nach drüben geschickt worden.“ Als Lösung schlagen sie „die erneute bauliche Abtrennung vor“. Diesmal allerdings ohne Schießbefehl. „Ob es einen Übergang zwischen den beiden Deutschlands geben soll, ist noch nicht entschieden.“

Im Fitnessstudio, in dem Frau Beckerherm an der Theke arbeitet, hat sie nur Zustimmung zur Parteigründung gehört: „Wir nehmen nur auf, was die Menschen hier fühlen.“ Genau, sagt ihr Sohn und: „Besser wir als die Nazis.“ Gegen Ossis habe er übrigens gar nichts, sondern „sogar schon einmal PDS gewählt“. Zum Abschluss soll noch ein Foto der netten Familie Mauerbauer gemacht werden. „Stellen wir uns doch draußen auf die Straße“, schlägt der Vater vor, „da gibt es ein schönes großes Schlagloch.“