Emotional gesteuerte Einzeltäter

Wenn das Europaparlament sich ernst nähme, müsste die neue EU-Kommission durchfallen. Doch dazu fehlt der überwiegenden Mehrheit der Abgeordneten der Mut

Ein Parlament, das seine Rechte nicht auszuüben wagt, wird vom Wähler nicht ernst genommen

Heute geht ein Marathon zu Ende. Insgesamt 72 Stunden lang wurden die künftigen Mitstreiter von José Manuel Barroso, dem neuen Kommissionspräsidenten, im Europaparlament befragt. Einige dieser Anhörungen hatten mehr Ähnlichkeit mit einem Polizeiverhör als mit einem kritischen Gedankenaustausch zwischen Parlamentariern und künftigem Kommissar oder künftiger Kommissarin.

Gleich der erste Kandidat, Tschechiens Ministerpräsident Vladimir Spidla, fiel mit Pauken und Trompeten durch. Unsicher habe er gewirkt, unvorbereitet auf Fachfragen über sein künftiges Ressort Beschäftigung, Sozialpolitik und Chancengleichheit, urteilten Teilnehmer hinterher. Mehrere Abgeordnete erzählten hinter vorgehaltener Hand, Spidla habe sie vorher im Büro aufgesucht, um zu erfahren, mit welchen Fragen er in der Anhörung zu rechnen habe.

Ein vielleicht noch größeres Desaster war der Auftritt der Niederländerin Neelie Kroes. Die Abgeordneten konfrontierten sie damit, dass sie in den vergangenen Jahren so ziemlich in allen Branchen in Aufsichtsräten gesessen habe – keine gute Voraussetzung, um als Wettbewerbskommissarin für Chancengleichheit zu sorgen. Die Kandidatin reagierte fahrig und schnippisch auf die kritischen Fragen. Der Auftritt machte deutlich, wie stark die Auseinandersetzung um ihre Person sie belastet und wie schlecht sie mit dem Druck umgehen kann.

Stavros Dimas und Rocco Buttiglione fühlten sich dagegen sichtlich wohl in ihrer Haut. Zwei joviale ältere Herren mit angegrauten Schläfen und einem Lächeln, das den kritischen Fragern signalisieren sollte: Ich bin mit meinen Überzeugungen im Reinen. Der Grieche Dimas soll sich als Nachfolger von Margot Wallström um die Umwelt kümmern – ein Vorschlag, der nicht nur den Grünen Sorge bereitet. In der Anhörung machte der derzeit für Beschäftigungsfragen verantwortliche Kommissar keinen Hehl daraus, dass er die Interessen der Wirtschaft mehr als bisher berücksichtigen will.

Der Italiener Buttiglione hatte im Vorfeld einigen Wirbel verursacht, weil er Otto Schilys Plan unterstützte, europäische Asylbewerberlager in Nordafrika einzurichten. In der Anhörung rückte er von dieser Idee ab. Neue Freunde unter den Abgeordneten schaffte er sich, indem er seine katholischen Grundüberzeugungen darlegte und Homosexualität eine Sünde nannte.

Auch Laszlo Kovacs’ Antworten ließen manch einen Zuhörer zusammenzucken. Der ungarische Außenminister soll sich künftig um Energie kümmern und outete sich im Hearing als Kernkraft- und Kohlefan. Erschreckend wenig Ahnung von seinem Fachbereich habe er gehabt, räumten hinterher auch Parteifreunde von der sozialistischen Fraktion ein. Die Grünen fragten, wie die Kommission mit einem solchen Betonkopf in Zeiten einer strukturellen Ölkrise Politik zu gestalten gedenke.

Skeptische Kommentare ernteten auch die künftige Landwirtschaftskommissarin Mariann Fisher Boel aus Dänemark und die für Zölle und Steuern zuständige Lettin Ingrida Udre. Nur der Brite Peter Mandelson (Außenhandel), Günter Verheugen (Superkommissar für Wirtschaft und Wettbewerb), die litauische Politikern Dalia Grybauskaite (Haushalt) und die Schwedin Margot Wallström (Öffentlichkeitsarbeit) überstanden die Prozedur im Parlament mit Bravour.

Die Bilanz des Befragungsmarathons sollte demnach ziemlich klar sein: Siebenmal ungenügend, viermal sehr gut, der Rest liegt irgendwo im Mittelfeld. Man muss natürlich in Rechnung stellen, dass kein griechischer Abgeordneter Dimas beschädigen will, kein Italiener Buttiglione im Regen stehen lässt. Die Sozialisten tun sich in gleichem Maße schwer, Kovacs zu kritisieren wie die Liberalen Kroes als eine der ihren ansehen. Doch wenn dieses Parlament sich selbst und die für alle Beteiligten zeitraubende Prozedur ernst nähme, müsste das Barroso-Team in der Plenarsitzung Ende Oktober durchfallen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit aber wird es dazu nicht kommen. Schon jetzt weisen sogar die schärfsten Kritiker der neuen Mannschaft gern darauf hin, dass dem Parlament die Hände gebunden seien. Denn die Möglichkeit, einzelne Personalvorschläge zurückzuweisen, sieht weder der derzeit geltende Nizza-Vertrag noch die geplante Verfassung vor. Das Plenum müsste die Mannschaft als Ganzes ablehnen und Barroso dadurch nötigen, die umstrittenen Kandidaten zurückzuziehen.

Dadurch würde allerdings das mit den Mitgliedsländern und den Parteien ausgehandelte Proporzgeflecht zerstört. Auch der mühsam erreichte hohe Frauenanteil in der neuen Kommission stünde auf dem Spiel. Deshalb hätte eine andere taktische Variante deutlich mehr Aussicht auf Erfolg: Die Fraktionsvorsitzenden könnten Barroso vor der entscheidenden Plenarsitzung nahe legen, die Ressortverteilung zu überdenken. Behielte Wallström ihr derzeitiges Umweltressort, Dimas würde Wettbewerbskommissar und Kroes zuständig für Öffentlichkeitsarbeit – viele Probleme wären mit einem Schlag aus der Welt. Bekäme Kovacs statt der österreichischen Kandidatin Ferrero-Waldner das Außenressort, könnte der Ringtausch als nahezu perfekt gelten.

Doch das Ritual der vergangenen zwei Wochen lässt vermuten, dass der überwältigenden Mehrheit der Abgeordneten zu einer solchen Entscheidung der Mut fehlt. So unterschiedlich die Themen und die Interessenlagen in den einzelnen Anhörungen auch waren – zwei Fragen wurden garantiert jedes Mal gestellt: Werden Sie das Parlament künftig über alle Entscheidungen informieren? Und werden Sie von sich aus die Konsequenz ziehen, wenn wir Sie heute hier durchfallen lassen?

Einige Anhörungen hatten mehr Ähnlichkeit mit Polizeiverhören als mit kritischem Gedankenaustausch

Das Parlament weiß ganz genau, dass seine Macht nur bis zur Plenarsitzung im Oktober währt. Die Hearings erweckten den Eindruck, als wollten die Abgeordneten diesen kurzen Moment gehobener politischer Bedeutung bis zum Letzten auskosten. Zum Teil schneidend vorgebrachte Fragen und der regelmäßig wiederholte Versuch, die oben einsam am Pult sitzende Person zu einem Kotau vor den Fragestellern zu nötigen, lassen auf schwaches Selbstbewusstsein schließen. Statt kühl kalkulierender Politiker, die ihren institutionellen Machtrahmen intelligent ausschöpfen, waren wieder einmal überwiegend emotional gesteuerte Einzeltäter am Werk.

Hinterher, wenn das Team Barroso von der großen Koalition aus Sozialisten und Konservativen durchgewunken worden ist, werden alle sagen, was sie immer sagen. Bei der Zustimmung zu Nizza, bei der Entlastung der Kommissare Solbes und Schreyer vom Eurostat-Skandal, bei der Wahl des Verlegenheitskandidaten Barroso zum Kommissionspräsidenten war die Begründung jedes Mal die gleiche: Wenn wir nicht zustimmen, bedeutet das einen Rückschlag für Europa. Das Gegenteil ist wahr. Ein Parlament, das seine wenigen Rechte nicht auszuüben wagt, wird vom Wähler nicht ernst genommen. Das ist der eigentliche Rückschlag für Europa.

DANIELA WEINGÄRTNER