Der Schiffer spurt

Per Anhalter über Deutschlands Wasserstraßen. Heute Teil 3: Teezeremonie vor Wolfsburg

von PETER SCHANZ

Auf jedem Schiff, das schwimmt und schwabbelt, ist einer drauf, der dämlich sabbelt. (Messingtafel im Steuerhaus der „MS Bodenwerder“)

Die Hindenburgschleuse steht in Anderten östlich Hannover. Eine derart klobige Trutzburg sah ich noch in keinem Kanal. Viel Granit aus der im Versailler Vertrag festgelegten Schleifung Helgolands wurde hier verbaut. Ein technisches Wunderwerk seit der Eröffnung 1928 in Anwesenheit des Paten: Keine Schleuse geht sparsamer mit Wasser um; sie verbraucht aber auch deutlich mehr Strom als gut tut.

Ob die mich mitnehmen da unten? Sind noch fünfzehn Meter tiefer, eben beim Einfahren. Finstere Gesellen, schwarzbärtiger Kapitän ruft grobem Matrosen unverständliche Kommandos zu. Lieber nicht fragen, ob er aus Polen kommt – nachher ist ein Tscheche beleidigt. Ich bitte ums Mitnehmen bis Sülfeld, die Schleuse vor Wolfsburg. Ich kann seinen Blick nicht deuten. Heißt das, ich kann mitfahren? Ich interpretiere Zustimmung und hole mein Gepäck aus dem Hinterhalt. Als sie hochgeschleust sind, schieb ich alles rüber, spring hinterher und warte brav am Steuerhaus, was kommt.

Es kommt doch ziemlich deutsch: „Na, haben die Kollegen schon alle erzählt, dass die Schifffahrt nur noch große Scheiße ist?“ Sollte ich endlich den Optimisten getroffen haben, den Abweichler, der sich über seine Zunft amüsiert? Von wegen! Bei diesem Kapitän haben sich Erniedrigung und Jammertal zu kalter Wut verdichtet.

Es gibt ein Muster: Das Schiff ist ererbtes Familienstück – mit Glück ist der letzte Austauschmotor abbezahlt – der Kapitän ist der letzte Spross und steht kurz vor der Rente – er fährt entweder mit seiner Frau oder kann gerade noch einen ausländischen Matrosen bezahlen – Rücklagen für Investitionen haben die Frachtraten längst aufgefressen. Wenn nur endlich jemand seinen Kahn kaufen würde. „Von mir aus auch ’n Pole.“ Er ist 65 und fertig. Das wird jetzt mehr Geständnis als Gejammer: wie schwer er morgens aus dem Bett kommt, wie kaputt er ist, wenn er, wie eben, in Eile vor der Schleuse die Wartezeit nutzt und mit dem Matrosen die Lukendeckel auflegt. Damit der Frachtraum trocken bleibt. Für den Raps morgen früh in Hülstringen. Es ist sehr hart, der Letzte zu sein.

Bernhard will dann auch aufhören. Der Matrose ist wie ein Ziehsohn, fährt seit 26 Jahren mit Hermann, dem Kapitän. Als Schiffsjunge hat er bei ihm angefangen, alles gelernt. Ein kantiger Kerl, eine Möbelpackergestalt, schwer zu verstehen: Hasenscharte, Gaumenspalte. Seiner linken Pranke fehlen drei Finger. „Diese Drahtseile – kanns nix machen, wie Butter durchn Handschuh beim Loskoppeln ausm Schubverband durchn Finger, aufm Rhein, Höhe Bonn.“ Krankenhaus. Abgehauen. Wollte lieber zu Hause liegen, in Ostfriesland. Deshalb verstand ich ihre Sprache nicht! Hohes, hartes Friesengewächs.

Höhe Abbesbüttel, bei Kilometer 227 des Mittellandkanals, kommt Bernhard mit einem Körbchen aus seinem Matrosenhaus am Bug der „Bodenwerder“ zurück und bereitet uns dreien die ostfriesische Teezeremonie. Nix da mit „Hier hastn Pott!“ Er fischt mit seiner zweifingrigen Hand zartes Porzellan zurecht, versieht es mit Sahne und dicken weißen Kluntjes und träufelt durchs zierliche Sieb aus einem Kännchen die gute feine Ostfriesenmischung. So sitzen wir, halten die Tassen hoch und kucken in den Kanal und über die Ufer hinweg. Nicht dass es etwas zu sehen gäbe bei diesem Pissregen in dieser Schietgegend. Egal. Solang wir unsern Tee trinken, alles okee. Sonst alles Scheiße mit der Binnenschifffahrt.

„Aber Wolfsburg ist doll. Da ham die ’ne neue Brücke gebaut, über die kannste nicht mal mehr laufen: da wirste gefahren!“ Meine friesischen Schiffer haben mich vorbereitet: Der Konzern hat seine schöne neue Autowelt direkt den Schiffern ans Ufer kredenzt. Baute VW Lkw, wäre der Akt nicht so freundlich. Die Brücke führt von der Stadt in die Autostadt und hat in der Mitte einen Abstieg zu den Liegeplätzen der Binnenschifffahrt. Und zum Geländewagenparcours. Der Schiffer liegt lieber hier still als in Duisburg-Ruhrort oder in Püsselbüren, weil die Kanalufer sehr gepflegt sind und er zu Fuß in die Fußgängerzone kommt.

Am südlichen Ufer brettern in der Dämmerung verwegene Höllenfahrerinnen im Touareg über Treppen, Wippen, Bäche – gegenüber leuchtet über diverse Stockwerke die Gastronomie heim. Hier wird der Passat-Abholer so freundlich umgarnt, als bekäme er gleich einen Bentley verliehen. So viel Entgegenkommen pro Verbraucher auf einem Fleckchen Deutschland: das ist Avantgarde im Dienstleistungssektor. Noch den impertinentesten Führungskräftenachwuchs behandeln sie hier so allerliebst, als sei er gar kein Arschloch im weißen Oberhemd.

Die Volkswagen-Currywurst, Mythos der VW-Kantine, wird auch am späten Abend noch in Möwenpicks Lagune am Mittellandkanal feilgeboten: 4,35 Euro bei Selbstbedienung. Qualität eben. Wenn ich dazu noch von Bernhards friesischen Bratkartoffeln von heute Mittag hätte! Draußen zwei holländische Schiffe, ein polnischer Kahn und ein Wach-und-Schließer. Wer muss vor wem geschützt werden: Volkswagen vor den Karnickeln, die Karnickel vor den Schiffern oder die Schiffer vor Volkswagen? Offenbar aber ist allen wohl, und der Volkswachmann hat Arbeit.

Das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 17 ist keine Aufgabe für nur ein Jahrzehnt. Die Wasserstraßen so auszubauen, dass man von Bonn nach Berlin, also von Holland bis Polen zweispurig zügig zeitgemäße Binnenschiffe einsetzen kann, bedeutet noch längere Zeit: vertiefen, verbreitern, Brücken erhöhen, Schleusen erneuern.

Um von der Sülfelder Schleuse aus meine Reise fortsetzen zu können, muss ich eine riesige Baustelle weiträumig umwandern. Es regnet, mein Gepäck wiegt Tonnen, und ich verfluche meine ganze Drecksunternehmung. Auf der Stelle wächst das Rettende: Hinter dem Wäldchen steht die „MS Bornholm“ – das war die Kohle von Duisburg nach Wanne-Eickel! Herzlichstes Schifferwiedersehen mit den Preugschats! Ich werde wohl heute Abend in Magdeburg sein. Dort soll die „Bornholm“ Getreide laden.

Am Anleger des Olympiastützpunkts SC Magdeburg darf ich mein Plastekanu aufpumpen und zu Wasser lassen. Hier werden Goldmedaillen geschmiedet, aber es ist so gar kein glänzender Ort. Heute statt Kanuten: Vereinsgärtner, Bauarbeiter, Hausmeisterähnliche, die glotzen und warten, dass der da endlich sein Scheißding aufgepumpt hat und hoffentlich beim Einsteigen ins Wasser kippt.

Nichts gibt’s – die Freude ist mit mir: Elbe abwärts! Ich begegne Wasserpolizisten, die zartfühlend Tempo drosseln, damit ich nicht über ihre Wellen stolpere. Sonst niemandem. Vier Stunden, 25 Kilometer Elbe: kein einziges Schiff. Es dauert viele Kilometer, bis jenseits des Deichs blökendes Vieh sich ins industrielle Dauergeräusch mischt, es übertönt, schließlich sein Solo zelebriert, in das sich aber bald die nächste Autobahn einpegelt. Dann taucht der große Trog auf, der seit wenigen Monaten den Mittellandkanal über die Elbe trägt, wo er bald als Elbe-Havel-Kanal weitermacht. Man war 1938 nicht mehr über den Pfeilerguss hinausgekommen. Irgendwann schweigt auch der Verkehr. Jetzt wird die Ruhe gewaltig; Du tätschelst mit dem Paddel das Wasser nur noch und flüsterst mit dir. Auf der Elbe: kein Laut, kein Hauch – nur fließender Strom. Ich überhole einen hölzernen Fensterrahmen. Baumwipfel kleben über dem Deich und eine Kirchturmspitze.

Warum eigentlich gibt es immer und überall Angler? Zu jeder Tages- , jeder Jahreszeit, an entlegensten Stellen und mitten im Hafen, unter Brücken und auf weiter Flur. Schon mal Frauen angeln gesehen? Mit einem Mal hackt in die große Stille ein Militärflugzeug.

In Rogätz geht’s runter von Mutter Elbe. Südliche Altmark, gegenüber Schartau im Jerichower Land. Beim Bäcker unterhält man sich über eine Euromünze mit einem drauf, der wie Lenin aussieht. Keine Ahnung jetzt, welches Land – aber das kann doch kein Lenin sein, oder? War’s der Belgier? Sieht der aus wie Lenin? Und dass der Westen zu blöde ist, stinknormale Plattenspieler herzustellen und zu verkaufen, wie sie jüngst beim Mediamarkt in Magdeburg merken mussten, dabei hätten sie doch noch so viele Platten aus der DDR-Zeit.

Mirosłav, der polnische Kapitän auf dem Schubverband „Aqua 01“ aus Bydgoszcz, heißt mit Nachnamen ziemlich deutsch: Obst. Naja, sagt er, sein einer Großvater sei noch ganzer Deutscher gewesen und vieles durcheinander nach dem Krieg. Er hat mir vor der Schleuse Hohenwarthe Ja gesagt. Er platziert die Trainingshose exakt auf dem Äquator seines nicht unbeträchtlichen Wanstes.

Steuermann und Schiffsjunge hüpfen in Pantinen an Land; die Schwimmpoller in der nagelneuen Schleuse erlauben ein paar Schritte, der Neugier zuliebe: Die andere Schleusenkammer ist gesperrt. Wegen einer Havarie, meldet der Funk. Der Buschfunk ergänzt, ein polnischer Schubverband sei’s gewesen, der vor dem Grünlicht schon losgemacht und auf das neue Tor aufgesetzt hätte. Sonst strahlt die Deutsche Einheit. Projekt Nummer 17 ist hier bald durch. Alles schon schön breit hier, wir staunen, wie aufwändig man Kanalufer gestalten und befestigen kann, samt stattlicher Radwege. Auch neue Hafenanlagen haben wir schon bewundert, gewaltige Silos für Raps, Getreide, Futtermittel. Es muss hier wohl außerordentlich blühende Landschaften geben.

Binnenschifffahrt ist etwas Exterritoriales. Mitten in Deutschland bleiben wir sehr außen vor. Selbst die großen Städte ziehen an den Flüssen vorbei wie Ansichtskarten, an den Kanälen bleiben sie fast ganz verborgen. Das gemächliche Gefährt fährt wohl musterhaft und vorbildlich: Tempolimit funktioniert, keine Staus, kaum je Unfälle, fast keine CO2-Emission. Aber es bleibt alles so eng: Es gibt nicht den weiten Horizont. Es wird dem Schiffer vorgeschrieben, ob er jemandem begegnen darf oder nicht. Er hat nur zwischen den Ufern die Spur zu halten, kann nicht seinen eigenen Kurs nach den Sternen bestimmen, er ist ein Gelenkter, ein Gesteuerter, ans Ufer gebunden. Er spurt.

In der Wusterwitzer Schleuse sitzt einer hoch über dem Kanal im Trockenen und hat es sich warm eingerichtet in seiner Unzufriedenheit: „Die Bonzen! Die in Berlin! Die machen doch nüschte! Hier geht doch alles den Bach runter!“ Das dumpfe Gemaule, das satte Geprolle, ich mag’s nicht mehr hören. Hier werd ich nicht alt.

In die Schleuse fährt etwas Kleines ein, mit Sandhaufen tief beladen. Ein schöner alter Finow-Kahn, im schmalen Maß erbaut, damit er durch den vierhundert Jahre alten Finowkanal passte, nordöstlich von Berlin in der Eberswalder Gegend, wo heute die Sportboote sich tummeln, nur 4,60 m breit. Ich bleibe Glückes Schoßhund und darf mit.

Der Großvater hat die „Odertal“ 1902 als Schleppkahn bauen lassen. Einen ersten Motor gab es erst Anfang der 50er, in der DDR. Da fuhr schon längst der Vater. Und 56 kam Rudolf Eisermann selbst mit aufs Schiff und blieb bis heute. Eisermanns fanden die Wende toll: Die hat erst mal nur neue Ufer beschert. Wo konnten sie nun überall hinfahren mit ihrem zierlichen Bötchen. Bis Bremerhaven! So nett und freundlich die Leute da oben im hohen Norden vom tiefen Westen!

Im Ruderhaus kleben noch immer dutzende gesammelter Bananenschildchen. Ja, sie verdienten auch Geld. Bis zum Desasterjahr 1994. Eisermanns haben so viel zu erzählen wie alle Schiffer, die täglich vierzehn Stunden zwischen zwei Ufern die Linie halten. Manche lassen halten: haben ihren kleinen Hebel, den Piloten, der das Ruder gerade hält. Haben sie ihn nicht, ist die Arbeit am Steuerrad, an der Haspel, ein fortwährendes Gekurbel. Geradeaus gibt es nicht, nur dauerndes Ausgleichen, schon gar bei Gegenverkehr. Wenn die massigen Schiffskörper sich aneinander vorbeischieben in den engen Wassern, entstehen große Söge und Drücke, das Gekurbel braucht Kraft.

Aber nun! Nach drei Wochen und 1.127 Kilometern auf Rhein und Kanälen plus paar Stunden auf der Elbe gehen uns jetzt Seen auf, einer nach dem anderen: der Wendsee, der Plauer See, wo uns die Havel abholt, der Trebelsee, der Jungfernsee. Mit 270 Tönnchen Pareyer Sand tuckern wir durch prächtigste Natur. Grüne Inselchen im glitzernden Blau: Brandenburg wie in der Bierreklame – Berlin, wir kommen!

In der nächsten Woche: Horrorfilm auf Schleusenwärters Monitor – Rindfleischs Gästezimmer – Polen Steuerbord!

PETER SCHANZ, 47, lebt als freier Autor („87 Tage Blau“) auf der Ostseeinsel Fehmarn