Mit Derrida geht der letzte der großen Intellektuellen

Frankreich zeigt sich vom Tod des engagierten Querdenkers betroffen und betrauert einen immensen Verlust für die Philosophie – aber nur die wenigsten kennen Derridas Denken

PARIS taz ■ Noch unter dem Schock der Meldung vom Tod Jacques Derridas hofften seine Anhänger, Kritiker oder schlicht Leser gestern in Frankreich auf nationale Betroffenheit. Einige Zeitungstitel entsprachen der Erwartung. So stand als Überschrift zum Beispiel im Elsässer Blatt Alsace: „Die Philosophie verliert ihren französischen Riesen.“ Beim genaueren Hinsehen jedoch entpuppte sich der anschließende Text aber in allen am Sonntag erscheinenden Ausgaben als dieselbe Meldung der französischen Agentur AFP – und war von der Art, wie Nachrufe für prominente Todesfälle bereitgehalten werden.

Am Samstagabend informierten der Rundfunk über den „immensen Verlust für die Philosophie“. Eine Umfrage des Kanals France-2 unter Studierenden ergab den Befund, dass die wenigsten Derrida gelesen hatten. Manche kannten nicht mal den Namen. Vielleicht helfen hier die ausführlicheren Würdigungen der kommenden Tage nach.

Von den Politikern, die sich beflissen und oft ohne große Inspiration per Kommuniqué zu Wort meldeten, haben einige die Werke vielleicht bloß dekorativ im Bücherregal stehen. Auch dem Staatschef Jacques Chirac respektive seinen Mitarbeitern, fiel im fernen China nur ein: „Mit ihm hatte Frankreich der Welt einen der größten zeitgenössischen Philosophen gegeben, einen der bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit. Als universeller Denker verstand sich Jacques Derrida als Weltbürger. Er bleibt (der Nachwelt) als Erfinder, Entdecker und Meister von einer außerordentlichen Schaffenskraft.“ Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres sieht in ihm einen „Humanisten, der sich in seinen letzten Jahren mit der Gastfreundschaft als intellektueller und politischer Wert beschäftigte sowie vor allem mit dem der Beziehung zwischen Europa und dem Mittelmeerraum, deren gelungenes Produkt er selbst war“. Natürlich nichts Negatives über den stets links engagierten Querdenker.

Das letzte Wort haben die Freunde und Weggefährten. Exkulturminister Jack Lang hatte kürzlich noch mehrmals den schwerkranken, an einem Speicheldrüsentumor erkrankten Philosophen besucht. „Ich wusste von seiner Krankheit, und trotzdem sah ich ihn noch im letzten Monat so kämpferisch, kreativ und so gegenwärtig, dass ich mir vorstellte, er könne die Krankheit, die ihn gepackt hatte, überwinden“, sagte Lang. Die Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco, die gemeinsam mit Derrida Gespräche über die Frage, was morgen sein werde, veröffentlichte, hat wie viele in Frankreich den Eindruck, dass eine Epoche zu Ende geht, dass mit ihm der letzte „dieser Generation großer Intellektuellen“ von der Bühne verschwunden ist, die sich einmischten: „Er war den Ansicht, dass wir in einer schrecklichen Zeit leben, zwischen wildem Kapitalismus und wildem Fanatismus. Für ihn war die Demokratie nie ein beendetes und gesichertes Werk. Seine Dekonstruktion umfasste auch die Kritik unserer Institutionen. Er war für John Kerry, aber kritisierte die Mängel der amerikanischen Demokratie.“ RUDOLF BALMER