Mit dem Text gegen den Text

Die Welt anders lesen heißt, sie zu verändern. Mit seiner Methode der dekonstruktiven Lektüre hat Derrida Routinen des Verstehens aufgebrochen

VON NIELS WERBER

Bleibt am Ende nur ein Label? Jacques Derrida sei gegen Ende der 1960er-Jahre bekannt geworden durch den von ihm entwickelten „Dekonstruktivismus“, vermelden die Agenturen am Tag seines Todes. Nichts könnte falscher sein. Ein weiterer Ismus, der sich stolz neben Formalismus, Strukturalismus oder Marxismus stellt, wäre seiner dekonstruktiven Lektüre gewiss nicht entgangen. Marx unter Marxismus abzubuchen, ein komplexes, widerstreitendes Netz von Bezügen auf den Generalnenner eines Ismus zu bringen und so handhabbar zu machen wäre gerade das Gegenteil von dem gewesen, was Derrida seit seinen ersten großen Lektüren von Husserl, Freud, Levi-Strauss, Rousseau oder Descartes unternommen hat: nämlich Widersprüche, Paradoxien, Abgründe der Texte freizulegen und ihre Spuren zu verfolgen.

Derrida hat Deutungstraditionen und Routinen des Verstehens aufgebrochen und mit Alternativen konfrontiert und so Textkorpora wieder kompliziert, statt Autoren auf ein Set von Thesen zu reduzieren, um diese dann einem Ismus zuzuordnen. Man würde nach seiner Lektüre des „Strukturalisten“ Levi-Strauss zweifeln, ob es so etwas wie „den Strukturalismus“ überhaupt gibt. Was immer Derridas Schreiben gewesen sein mag, es war kein „Dekonstruktivismus“. Dass er aber dem schicken Label deconstruction seinen Erfolg verdankt und seine Wortschöpfungen wie différance zu viel zitierten Floskeln der Geisteswissenschaften avancierte, gehört zu den Paradoxien seiner Laufbahn.

Derrida ist ein Leser gewesen. Er hat Texte anders gelesen. Freud anders als Lacan, Descartes anders als Foucault. Anders, aber wie? Er hat sie dekonstruiert. Dies ist keine Methode, die man auf jeden Text in gleicher Weise anwenden könnte wie die Addition auf jede Zahl. Derridas Lektüren lesen vielmehr jeden Text mit ihm und gegen ihn, Freud mit Freud, Rousseau mit Rousseau, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit der Unabhängigkeitserklärung. Dies setzt einen Widerstreit des Textes im Text voraus, die Möglichkeit mehrerer, alternativer Lektüren, die man freilegen und gegeneinander ausspielen kann. Wie können die Repräsentanten eines Staates, den es gar nicht gibt, eben diesen Staat im Namen einer Souveränität für unabhängig erklären, die aus dem Akt dieser Souveränitätserklärung erst hervorgehen soll? Der Text verkündet nicht nur die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten, sondern erklärt auch, was Unabhängigkeit meint.

Die vom Text inszenierten performativen Paradoxien spürt Derrida auf und folgt ihren Spuren. Im Fall der USA bis hin zu einer Souveränität, die im Krieg gegen den Terrorismus im Namen des Rechts sich für unabhängig von allen Rücksichten auf Menschen- und Völkerrechten erklärt. Die Souveränität suspendiert das Recht. Derrida stößt so auf Potenziale des Textes, die erst kürzlich von den „supermächtigen USA“ aktualisiert worden sind.

Diese politische Dimension seiner Texte ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Gelesen wird nun eher Schmitt als Husserl. Die Schrift über Schurken findet von den Wölfen und Schafen der Fabel zu den aktuellen „kriegerischen Mobilisierungen“ der USA und ihrer „Rhetorik“. Im letzten Jahr intervenierte Derrida gemeinsam mit Jürgen Habermas in die Debatte um die Rolle Europas in einer von den USA dominierten Welt. Und angesichts der Verwandlung der Universitäten in zweckforschende Labore der Wirtschaft hat Derrida gefordert, „dass die moderne Universität eine unbedingte, dass sie bedingungslos, von jeder einschränkenden Bedingung frei sein sollte“.

Derridas Freund Paul de Man hat die Dekonstruktion als Lektüre bezeichnet, die eine Textbewegung freilegt, die aus dem Widerstreit zwischen Rhetorik und Grammatik, Figur und Referenz hervorgeht. Derrida dagegen betonte die Materialität der Zeichen. Genau wie ein Landschaftsbild nicht aus Feldern, Fluren, Bächen und Wolken besteht, sondern aus Pinselstrichen auf einer Leinwand, wird La Fontaines Fabel nicht von Schafen und Wölfen konstituiert, sondern von Lettern auf Papier. Was mit den Schafen und Wölfen passiert, hängt allein davon ab, wie man die Zeichen im Medium der Schrift manipuliert, nicht von irgendeiner Realität, welche die Schrift repräsentiert. Die angeblich treuen Stellvertreter führen nicht nur ein Eigenleben, sie haben ihr eigenes Reich der Zeichen gegründet.

Dies gilt nicht nur für Fabeln oder Literatur, sondern auch für den Text der abendländischen Philosophie, der jenseits materieller Zeichen für uns nirgends gegeben ist. Statt mit Ideen, Göttern, Monaden oder Menschenrechten haben wir es immer nur mit Texten zu tun. Deshalb kann Derrida behaupten: „There is nothing outside the text.“ Nicht einmal Schafe und Wölfe? Nein, denn Schafe oder Wölfe existieren nicht unabhängig von der antiken Fabel und ihren politischen Lektüren, von den Schriften der Naturgeschichte oder Zoologie, die sie generieren. Es gibt kein Medium, weder Bild noch Schrift, das eine Sache „nachahmt, repräsentiert, reproduziert“, wie sie ist, und zwar deshalb, so Derrida, „weil es keine Sache selbst gibt“. Aus der Welt der Zeichen und Medien führt kein Weg auf den sicheren Boden der Tatsachen, Realien oder Dinge. Der New Historicism hat Derrida in der Annahme bestätigt, die gesamte Gesellschaft sei ein Text, denn wo immer Zeichen verwendet würden, gebe es Text.

Wenn es also kein „Außen des Textes“ geben soll, dann kann man sich doch in seinem Inneren umschauen. Die Welt als Text ist nichts Natürliches. Sie ist gemacht, konstruiert. Texte im engeren Sinne und die Texte unserer Gesellschaft, unserer Kultur, unserer Geschlechtlichkeit, unserer Inszenierungen können also auch anders geschrieben oder erzählt werden. Weil jede Konstruktion Elemente und Regeln voraussetzt, die anders angewendet oder kombiniert werden könnten, sind Texte kontingent. Was an ihnen natürlich, selbstverständlich, zwingend, notwendig scheint, wäre anders möglich. Dies wird dann sichtbar, wenn man die Konstruiertheit dieser Texte freilegt und Alternativen in ihnen aufweist.

Texte derart mit ihrer internen Widersprüche zu destruieren, um sie als Konstrukte auszuweisen, zu denen es immer Alternativen gibt, könnte man Dekonstruktion nennen. Sie wird mit jedem Text anders verfahren, weil jeder Text von anderen rhetorischen und grammatischen Strategien getragen wird. Deshalb erschöpft sie sich nie.