zwischen den rillen
: Orpheus in runtergekommener Welt

So schön wie noch nie singt Nick Cave auf seiner neuen Doppel-CD über den Abgrund, der nur bis zu den Knien reicht

Die Treppen zum Haus sind abgerissen, der Mond ist weggeschlossen, sie holen die Toten raus. Der Mann sucht seine Liebste in den gefrorenen Mooren, singt er. Er geht in den Schneewehen schlafen. Sie wird schon irgendwo auftauchen, hier, unter den wilden, verlassenen Sternen. Seine Stimme trifft den Hörer wie ein Elefant – genauso wie die schauderhafte Orgel, die schiefe Flöte und das scheppernde Schlagzeug, die ihn begleiten. Wir sind in der Geisterbahn, im Irrenhaus. Und es ist wunderschön hier.

Wir sind auf Nick Caves neuem Album, auf gleich zwei neuen Alben mit den etwas prätentiösen Namen „Abattoir Blues“ und „The Lyre of Orpheus“ – und es ist, als sei der King of Darkness nach einigen lahmeren, verknappten und schnörkellosen Platten wieder da hingekommen, wo sein Herz schlägt: Bei der aufgedrehten Inbrunst, beim übergeschnappten Exzess, beim bizarren Schwulst, für den man ihn vor zwanzig Jahren kennen und lieben lernte. Es scheint, als würde Nick Cave wieder auf das Geschnatter in seinem Hirn hören, das, wie er erzählt, nur ein einziges Mal verstummte: in der Phase, als er an der Nadel hing. Besonders auf der ersten Platte, „Abattoir Blues“, die Nick Cave mit seinem wilderen Schlagzeuger einspielte, klopft nicht nur einfach der Wahnsinn an – er platzt plötzlich mitten hinein ins sonst so sichere Wohnzimmer. Und auch die sachteren Songs von „The Lyre of Orpheus“ verdrehen ein bisschen mehr die Augen als sonst.

Nick Caves Stimme ist weit nach vorn gemischt, und die wohl hervorstechendste Begleitband aller Zeiten, seine Bad Seeds, die inzwischen ohne Blixa Bargeld auskommen müssen, veranstalten genau den Hammerhorror des Nick Cave, mit dem er die lebensmüden und vergnügungssüchtigen Konzertbesucher in den Achtzigerjahren aus dem Häuschen brachte. Es grollt und donnert, die holprigen Rhythmen sind ungehobelter, als man sie damals hätte hinbekommen können, und Nick Cave singt im vertrauten Ton des hysterischen Wanderpredigers von Frauen, die Männer fressen oder von Männern ermordet werden, sofern diese ihre Frauen überlebt haben, von Leidenschaft, Obsession und morbider Perversion, von Selbstzerstörung und Menschenhass. Nur manchmal rettet der schwebende, der lobende und preisende Gospel auf diesen Platten vor der Wucht und nimmt dem Ganzen ein wenig Schwere.

Aber ist der Ernst, mit dem hier gerockt wird, wirklich so blutig? Nicht ganz. Nick Cave, der heimatlose Seemann, der seine Weisen aus der Ferne bringt, ist in den letzten Jahren ein Sesshafter geworden, der die sieben Meere inzwischen unter dem heimischen Teppich sucht, wie er einmal singt, der sicher seiner Frau die Blusen bügelt und die Blumen gießt und seine wilden Geschichten lieber aus der Vergangenheit schöpft. Ein melancholischer Mann, der zu den herrlichsten Liebesliedern in der Lage ist. Aber auch: ein alter Mann, der einfach nicht loskommt von seinem abgeschabten Konfirmationsanzug, ein abgehalfterter Dandy, der sich seiner Rolle bewusst ist und sie sogar witzig findet. Der vom Morgen nach der missglückten Nacht bei Starbucks zu singen vermag, als er, der grausame Dichter des Niedergangs, plötzlich einen Frappuccino in den Händen hält. Oh Lord.

Nur so lässt es sich wirklich wieder pathetisch werden: mit Humor. Man singt vom peinlichen Moment, wenn man bemerkt, dass der Abgrund, in den man gesprungen ist, nur bis zu den Knien reicht. Man singt vom Albtraum eines Bauern, nennt ihn Emmerich und lässt ihn seine Kuh dabei erwischen, wie sie eine Schlange säugt. Oder diese Sache mit Orpheus: Der Orpheus von Nick Cave zähmt nicht wie sonst die wilden Tiere, die Musik dieses Orpheus lässt die Vögel am Himmel zerplatzen, und die Hasen schlagen sich vor lauter Verzweiflung an den Bäumen die Köpfe auf. Und als Gott ihn endlich in die Hölle befördert, diesen scheußlichen Orpheus, da droht ihm sein Waschweib Eurydike: „Wenn du hier unten auf deiner Scheißleier spielst, dann schieb ich sie dir in den Arsch.“

Aber da geht sogar noch mehr: Einmal kommt zum Beispiel Flamenco ins Spiel. Nick Cave zwischen wedelnden Röcken und trampelnden Absätzen? Da hilft nur eins: lachen und mittrampeln. Ein andermal kommt schrilles, undefinierbares Quäken auf, ein Kichern des Chores dort – Erleichterung stellt sich ein. Die neue Emphase des Nick Cave ist nicht ganz echt. Und gerade weil sie auch für Belustigung sorgt, becirct sie mehr denn je. Nein, man muss nicht wie bei vielen seiner gleichaltrigen Kollegen beruhigt sein, dass Nick Cave einigermaßen das Niveau hält. Man darf begeistert sein. „Abattoir Blues“ und „The Lyre of Orpheus“ sind die besten Platten, die Nick Cave bis jetzt gemacht hat. SUSANNE MESSMER

Nick Cave: „Abattoir Blues/The Lyre of Orpheus“ (Mute)