Ikonen des Augenblicks

Die Ausstellung „Wolkenbilder“ in der Alten Nationalgalerie in Berlin zeichnet die „Entdeckung des Himmels“ in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts nach und die Entwicklung der Meteorologie

VON ULRIKE HERRMANN

Der Laie sieht einen Heuwagen, der eine Furt durchquert. Ein paar Weiden stehen am Ufer des Flusses; im Hintergrund sind Wiesen, Wald und Himmel zu erkennen. Die Wolken machen fast die Hälfte des Bildes aus. Dennoch wird sie der Betrachter wohl ignorieren und sich auf die Idylle im Vordergrund konzentrieren, schließlich wirken die Wolken ziemlich normal. Ganz anders die Meteorologen. Sie sind begeistert von diesem Constable und erkennen „einen [6]/8 Cumulus, leichten Wind, gute Sicht, Lufttemperatur um 20 Grad, Regen am Nachmittag, der gegen Abend abflaut. Die Nacht wird trocken und klar, das Wetter bleibt am nächsten Tag unverändert.“

Mit Hilfe der überlieferten Wetterberichte lassen sich manche Werke John Constables auf den Tag genau datieren – sogar die Uhrzeit ist bestimmbar. Denn der Londoner Maler nahm es sehr genau; von 1820 bis 1822 brach er immer wieder zu „skying campaigns“ auf, um endlich zu lernen, wie sich das flüchtige Himmelgeschehen auf Papier bannen lässt. Das war damals neu in England. Wolken gab es zwar schon immer auf Bildern. Aber vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert dienten sie vor allem als Symbol: Sie trugen Heilige in den Himmel oder umrahmten Christus am Kreuz; sie sollten das Irdische mit dem Jenseitigen verbinden. Doch Ende des 18. Jahrhunderts begann die wissenschaftliche Erforschung des Himmels; als die ersten Fesselbalons aufstiegen, waren hunderttausende Schaulustige dabei. Wolken kamen in Mode; gleichzeitig erschien die Atmosphäre wie die letzte Wildnis, wie der einzige Raum, der noch nicht durch den Menschen umgestaltet war.

Diese „Entdeckung des Himmels“ zeichnet nun die Ausstellung „Wolkenbilder“ nach, die ein Gemeinschaftsprojekt des Aargauer Kunsthauses, der Alten Nationalgalerie in Berlin sowie des Altonaer Museums, des Bucerius Kunst Forums und des Jenisch Hauses in Hamburg ist. Sie will die Kunstgeschichte mit der Entwicklung der Meteorologie verbinden. Niemand hat die Wetterkunde so revolutioniert wie der Londoner Pharmakologe Luke Howard.

Im Jahre 1803 veröffentlichte er seine Klassifikation der Wolken, die bis heute gültig ist. Er unterschied die drei Grundtypen Cirrus (Federwolke), Cumulus (Haufenwolke) und Stratus (Schichtwolke). Außerdem benannte er vier Mischformen: Cirrocumus, Cirrostratus, Cumulostratus sowie Nimbus, die Regenwolke. Um sein System zu illustrieren, fertigte Howard Bleistiftskizzen an – diese Wolkenstudien sind nicht nur genau beobachtete Naturphänomene, sondern auch ästhetisch. Die Grenzen zwischen Kunst und Naturwissenschaften waren fließend.

Innerhalb nur weniger Jahre verbreitete sich Howards Schrift in ganz Europa. Goethe war begeistert und verfasste 1817 eine entsprechende Instruktion für die Mitarbeiter der Sternwarten im Herzogtum Weimar. Wie so oft bei seinen Naturstudien vertrat Goethe aber auch diesmal eine eigenwillige Theorie, die nicht auf der Höhe der Wissenschaft seiner eigenen Zeit war: Er glaubte, dass sich das Himmelsgeschehen als ein pulsierendes Aus- und Einatmen der Erde erklären lasse. Gern hätte Goethe seine Himmelsdeutung durch Caspar David Friedrich illustrieren lassen. Doch der lehnte diese „Wolkenaufträge“ ab, weil er die „leichten freien Wolken“ nicht in eine sklavische Ordnung pressen wollte. Für ihn war der Himmel ein Spiegel der eigenen Seele, er mischte Fakten mit Fiktion, ästhetisierte die Natur und steigerte die Himmelserfahrung zur Himmelserfindung. Seine Frau Caroline wies Gäste darauf hin, dass man ihren Mann beim Himmelmalen nicht stören dürfe – das sei für ihn ein Gottesdienst.

Die Wolken in der Kunst sind nämlich kein schnöder Realismus – sie sind protestantisch, so die Kernthese der Ausstellung. Die Unendlichkeit des Raums, das nie endende Wolkengeschehen, sie illustrieren die Größe Gottes. Im 19. Jahrhundert begeistern sich vor allem Engländer und Norddeutsche für die Wolkenmalerei, im 17. Jahrhundert waren es bereits die calvinistischen Holländer. Sie waren die Ersten, die der Landschaft eine Hauptrolle gaben – und sie nicht nur als Kulisse für religiöse Szenen oder Schlachten sahen. Denn in den holländischen Städten fehlte der Adel, der sich für solche klassischen Sujets interessieren könnte; gleichzeitig lehnte der Calvinismus biblische Darstellungen ab. Vor allem Jakob van Ruisdael entdeckte die Wolken. Immer wieder malte er seine Heimatstadt Haarlem, aber eigentlich kam sie gar nicht vor. Nur ganz in der Ferne ist die große Stadtkirche St. Bavo zu sehen, das Bild teilt sich in Dünen, Wiesen – und Himmel. Der Wohlstand der Stadt, der Reichtum der Auftraggeber, das kommt einfach nicht vor. Ruisdael ging es um die Größe Gottes in der unendlichen Weite des Himmels.

Das gilt auch noch für seine Nachfolger Constable und Turner im 19. Jahrhundert. Während jedoch Constable „Ikonen des Augenblicks“ malte und im Flüchtigen versuchte das Ewige abzubilden, interessierte Turner die Dynamik des Geschehens am Himmel. In seinen „services of the clouds“ variiert er immer wieder neu die Konfrontation von Luft und Wasser. Die Ausstellung endet im frühen 20. Jahrhundert, unter anderem mit Emil Nolde. Er löst die Wolken in abstrakten Farbflächen auf, sie verschwinden – und bleiben doch erhalten. Denn nur Wolken können diese Wirkungen haben.

Bis 30. Januar, Katalog (Hirmer Verlag, München) 39,90 €