Im tiefen Tal der Falten

Nostalgie-Show über das Altwerden: Kent Nagano, Peter Mussbach und die Staatsoper Berlin erinnern an den japanischen Komponisten Toru Takemitsu

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Die Leinwand im Hintergrund der Bühne leuchtet in zartem Blau. Aber sie bleibt leer. Im Programmheft steht, dass Toru Takemitsu Musik für über 100 Filme geschrieben hat, darunter für „Dodesukaden“ von Akiro Kurosawa. Das Leben ist kurz, Takemitsu ist nur 65 Jahre alt geworden, er starb 1996 an Krebs. Die Oper, die er für seinen Freund Kent Nagano schreiben wollte, habe er schon fertig im Kopf gehabt. Auch das steht im Programm. In der Staatsoper Berlin ist sie nicht zu sehen, Nagano und Intendant Mussbach haben stattdessen eine Totenmesse für einen Musiker inszeniert, der sich nicht wehren konnte.

Er liebte das Kino, den Schlager, den Pop und den Jazz. Und er liebte Debussy. Vor der leeren Leinwand fahren aus der Versenkung heraus drei Frauenfiguren empor: eine Alte, eine Mittelalte und ein Mädchen. So ist das Leben, wir werden alt. Das Mädchen steckt in einem Kostümpanzer, der es nackt aussehen lässt. Später tauchen weitere Figuren aus der Versenkung auf, deren Kostüme sie als nackte Greisinnen zeigen. Schöner werden wir nicht im Alter, aber interessanter; medial betrachtet ist das Leben nur eine Vorbereitung auf das Leichenschauhaus. In der Erinnerung bleiben Träume.

Mussbach lässt Revuegirls tanzen und ein halbes Duzend Liliputaner, die in Teddybärkostümen stecken. Artig tapsen sie auf der Bühne herum und haben dicke Eier und Schwänzchen zwischen den kurzen Beinen. Auf einmal fängt die Mittelalte an zu singen, und es stellt sich heraus, dass es Georgette Dee ist.

Mag sein, dass der tote Takemitsu sogar diese Art des Nichtsingens gemocht hätte, er ließ sich von fast allem inspirieren: von den Tönen der Natur – sie glucksen als Pausenfüller aus Lautsprechern im Saal –, von traditionellen japanischen Instrumenten, von Schlagern, von der europäischen Avantgarde und immer wieder von Debussy.

Sein Leben war reich und verdienstvoll, aber ohne die Filme, für die er die Musik geschrieben hat, bleiben nur Kompositionen übrig, deren Aufführung ein Problem ist. Fünf davon hat Nagano ausgesucht. Eine um die andere beweisen sie nur, dass Takemitsu ein großer Nachahmer war. Sein Talent war die Illustration, das musikalische Untermalen von Gefühlen und Stimmungen. Autobiografisch motiviert, durch die Todesangst des 27-jährig an Tuberkulose Erkrankten, war das „Requiem for Strings“ von 1957: ein zartes, fragiles und fragmentiertes Stück in der Nachfolge von Debussy, der auch noch in den „November Steps“ von 1967 weiterklingt, nun jedoch gebrochen durch den konzertanten Einsatz von zwei traditionellen japanischen Instrumenten – hinter Gazeschleiern tauchen die beiden Solisten vor der leeren Leinwand auf Erich Wonders leerer Bühne auf. Die „Stanza I“ von 1967 gibt ein Bekenntnis ab zur europäischen Moderne und Olivier Messiaen. Mit verblüffend sicherem handwerklichem Geschick bewegte sich der Autodidakt zunächst zwischen den Traditionen, sein Spätwerk jedoch schwelgt in unverhohlener Nostalgie des großen, spätromantischen Orchesterklangs: „Family Tree“ von 1992 legt einen filmreifen Klangteppich unter die Rezitation von Gedichten des Lyrikers Shuntaro Tanikawa, „My Way of Life“ von 1990 bläht mäßig tiefsinnige Prosa zur gefühlstriefenden Orchesterkantate für Bariton auf.

Am Ende sind wir tot – und sehen so aus wie der Sänger, der jetzt im Kostüm der nackten Greisin steckt. Hängebrüste und Falten. Auch Nagano kann daran nichts ändern, das Orchester der Staatsoper spielt tadellos. Als alles vorbei ist, die Mitwirkenden für den Applaus an die Rampe treten, kommt dieses Gefühl der Erleichterung auf, das Beerdigungen stets auszeichnet. Mussbachs Parabel auf die Lebensalter sah so bedeutungsschwer aus. Aber das ist sie gar nicht. Sie ist nur grotesk und albern wie das nackte Mädchen mit seinem viel zu kleinen Alienkopf. Oder die Revuemädchen, die heute niemand mehr braucht, oder die Teddymännchen oder Georgette Dee: Alles liegt unendlich weit zurück und ist nur für diesen Abend in der Staatsoper aus der Remise geholt worden. Man darf sicher sein, dass es nicht wiederkehren wird. Es wäre ein Albtraum. Die Leinwand ist leer, Takemitsu war gut in seiner Art. Unsterblich ist er nicht. Lasst ihn auch ruhen.