Die Matrix des Heiligen

Maskenspiel, Diskurs und Erotik: Raoul Schrott versucht in seinem „Weissbuch“, das Unsagbare in Bild und Wort zu bringen

Auf Klappentexte soll man bekanntlich wenig geben, obwohl sie von den Lektoren der jeweiligen Bücher verfasst werden. Warum uns nun aber im neuen Gedichtband von Raoul Schrott „das gänzlich Unerwartete“ begegnen soll, „das Heilige, die Jagd und die Liebe“, bleibt unverständlich angesichts eines Werkes, das eine einzige Hommage an die Liebe darstellt und den huldigenden Dichter im poetischen Spiel mit allen nur denkbaren Topoi kultureller und religiöser Traditionen zeigt.

„Weissbuch“ heißt der neue Band, den dokumentarischen Charakter der Sammlung betonend. Von zahlreichen Triumphen ist darin die Rede, gefeiert werden Tod, Hunger, Ewigkeit, Reinheit, Liebe, Jagd und Zeit. Schrott ist wieder unterwegs gewesen, zu Gast in den Durchhäusern der Poesie, ein Fänger der lebenden Bilder, ein Rezitator etymologischer und mythologischer Quellen, ein Liebender in den Laken und in den marmornen Stimmungen an den Küsten der Welt. Ernüchternd nur zuweilen die unpoetische Realität, in der „ein kondom milchig auf dem boden“ liegt oder eine „kultur des rechtecks“ in Deutschland überflogen wird.

Schrott sucht das Heilige in den Tempeln der Aphrodite auf Sizilien, den verfallenen Kolonialhäusern von Havanna und in den Fischschwärmen molukkischer Gewässer. „die wiederkunft / des heiligen in den paarungen der brunft“, hier von Paradiesvögeln, könnte leitmotivisch über den Gedichten stehen, die staunend und werbend für das natürlich Schöne eintreten.

Schrott braucht immer die Tiefendimension der Phänomene, er schraubt sich mit Leichtigkeit durch zeitgeschichtliche und sprachliche Ebenen, springt munter von Hafiz über Leopardi und Mohammed zu den Gedichten Jafar Ibn Ithman al-Mushafis aus dem 10. Jahrhundert und klettert Mufflons in der algerischen Wüste hinterher. Dieses ruhelose Interesse ist faszinierend, es wird manchmal auch anstrengend, aber das ist ein Problem des Lesers und Hörers: Schrotts Gedichte sollte man immer auch laut lesen, er selbst ist der beste Interpret seiner Texte.

Schrott ist ehrgeizig, ohne seine Leichtigkeit zu verlieren; seine Begeisterung spiegelt sich im Rhythmus seiner Verse, die nach vorne treiben, die selten innehalten. Er liebt das Chorische, das Zusammen- und Wechselspiel der Stimmen, die er einfangen darf auf seiner Suche nach der reinen Poesie, dem schönen Klang und dem inneren Gehalt der Sprache. Immer ist es auch das Interesse an den (Natur-)Wissenschaften, das den polyglotten Dichter leitet: Astronomie, Physik, Neurologie, Architektur. Doch Schrott ist auch viel zu sehr dem Lebendigen verhaftet, um nur Poeta doctus zu sein. Unter dem bezeichnenden Titel „Wildwochen IX“ heißt es zum Beispiel: „stehfrühstück an der bar – ihr geruch noch / an den fingern während ich einer kellnerin nachblicke / wie sie sich über die stühle bückt / über viel mehr als wer wen wann fickt / konnten wir uns nicht einigen.“ Schrott aber bedient damit nicht den Oberflächenstaubsauger, der alles Wahrgenommene schluckt, verquirlt und poetisch aufgeladen wieder ausspeit. Letztlich ist er dem Unbekannten auf der Spur, das hinter den Dingen steht, mag man es heilig, erhaben oder transzendental nennen.

Es wird immer Zeugnisse geben, die sich unserem von Logik und Kausalität geprägten Denken ad hoc entziehen. Am Abgrund, vor dem Nichts, im Angesicht des Todes lässt Schrott dies erahnen; seine poetischen Grenzerforschungen und -verschiebungen sind letztlich nur moderate Versuche einer intelligenten Annäherung an das Fremde, um ihm, via Sprache, den Schrecken zu nehmen und „dieser Gegenwart beizukommen“. Die Matrix des Heiligen findet zahlreiche Ausdrucksformen, Schrott sieht dies sogar im Ekstatischen der Pornografie. Das Unsagbare in eine Form, in Bild und Wort, zu bringen, sei Maskenspiel, Diskurs und Erotik zugleich – drei Möglichkeiten, die dem Dichter Raoul Schrott offenkundig am Herzen liegen. THOMAS KRAFT

Raoul Schrott: „Weissbuch“. Carl Hanser Verlag, München 2004, 188 Seiten, 17,90 Euro