sozialkunde
: Ach, das Hocken vor Bildschirmen

Gibt es – wie Nagib Machfus meint – eine natürliche Koalition zwischen Schrift- und Buchkultur gegen die Kultur des Fernsehens?

Wie kommt es, so fragte der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus in seiner Rede zur Eröffnung der diesjährigen Buchmesse, dass sich die islamische und die westliche Welt gegenwärtig so schlecht verstehen? Schließlich habe doch Erstere das Alphabet und Letztere den Buchdruck erfunden, beide seien somit Teil einer großen und umfassenden Kultur und hätten einen Sinn dafür, dass diese große und umfassende Kultur nicht beim „stundenlangen Hocken vor dem Bildschirm“, vermutlich des Fernsehens wie des Computers, verloren gehen dürfe.

Das ist eine erstaunliche Frage, die mitten hinein in ein Kulturverständnis führt, das möglicherweise für die gegenwärtigen Misshelligkeiten zwischen dem Islam und dem Westen mit verantwortlich ist. Denn die Frage ist so formuliert, als gelte es etwas zu verteidigen und als stünde fest, woher die Bedrohung kommt. Und sie ist gleichzeitig so formuliert, als hätte der Buchdruck nur verlängert, worum es der Schrift bereits ging, und als seien demgegenüber Fernsehen und Computer nur als Abfall von dem, was Kultur sein kann, zu definieren.

Aber ganz abgesehen davon ist doch zu fragen, ob der Buchdruck nicht eine ganz andere, eine moderne Welt eröffnete, von der die arabische zumindest in den Teilen, die sich heute islamistisch definieren, in manchen Hinsichten meilenweit entfernt ist.

Es ist ja kein Zufall, dass auf der diesjährigen Buchmesse gerade die arabische Poesie so sehr gefeiert wurde. Sie entstammt einer Schriftkultur, auch wenn sie heute gedruckt wird. Sie steht in unmittelbarer Konkurrenz zum Koran und läuft damit immer Gefahr, als sündig bezeichnet zu werden, und profitiert doch von derselben Lesegeste, der es um Offenbarung auch dort geht, wo der Duft einer Blume oder die Schönheit einer Frau besungen werden. Da verneigen sich unsere westlichen Literaten tief.

Aber im Ernst, was hat es mit Schrift und Buchdruck, Kino, Fernsehen und Computer soziologisch und kulturtheoretisch auf sich? Kann man diese Verbreitungsmedien der Kommunikation nach hoch und niedrig, erhaben und populär unterteilen, immer mit dem Kino in der unentschiedenen Mitte, wie es der Hochkulturdiskurs unterstellt?

So zu fragen heißt natürlich, eher mit einem Nein zu antworten.

Seit Marshall McLuhan erinnert der medientheoretische Diskurs daran, dass die Einführung der Schrift, des Buchdrucks, des Fernsehens und des Computers allesamt derselben kulturellen Befürchtung begegneten, dass das menschliche Gedächtnis der Flüchtigkeit des medial Archivierten geopfert werde und dass man vor einer bloßen „Informationsflut“ stünde, die ohne Inhalt ist und nur auf dumme Ideen bringt.

Der erste Teil der Befürchtung ist falsch, der zweite zur Hälfte richtig. Falsch ist, dass das menschliche, also „lebendige“, Gedächtnis verloren ging. Wahr ist, dass es sich in das jeweils ältere Medium flüchtete, in die Erzählung als Einwand gegen die Schrift, in die Manuskripte als Einwand gegen den Buchdruck, in die gedruckten Bücher als Einwand gegen das Fernsehen und in die Fotografie als Einwand gegen den Computer. Hat es dadurch abgenommen? Ist es dadurch irgendwie falsch geworden?

Falsch ist, dass je eine Gesellschaft vor der Informationsflut neuer Medien kapituliert hätte, zumindest keine Gesellschaft, von der man heute noch wüsste (ich weiß nicht, ob man je die Hypothese prüfte, dass etwa die Inkas nicht nur an den Viren und Waffen der Spanier, sondern auch an deren Büchern zugrunde gingen).

Die Griechen und Juden haben die Schrift in verschiedene Formen der Schriftgelehrsamkeit gebändigt, die Renaissance hat den Buchdruck in den Humanismus gezähmt, der Wohlfahrtsstaat hat das Fernsehen in eine Kultur der solidarischen Öffnung gegenüber den Benachteiligten übersetzt und die Weltgesellschaft schickt sich gerade an, aus dem Computer das Medium einer universellen Aufmerksamkeit zu machen. Jeweils sind die Fragen nachgewachsen, die es erlaubten, den neu zugänglichen Informationen ihren Sinn zu geben.

Richtig ist immerhin, dass jedes neue Medium auf dumme Ideen bringt. Wir hätten keine aus Adjektiven und Verben gewonnenen Substantive („Freundschaft“, „Gerechtigkeit“, „Würde“), hätten die Griechen in der Schrift nicht das fließende Wort gleichsam angehalten und stillgestellt. Wir hätten keine „Kritik“, hätten die Gelehrten der Neuzeit nicht begonnen, die Produkte des Buchdrucks untereinander zu vergleichen. Und es gäbe keine „Kybernetik“, hätte man sich nicht gefragt, ob das Gehirn etwas kann, was der Computer nicht kann. Nur das Fernsehen bringt auf dumme Ideen, von denen niemand etwas merkt.

Dieser Punkt wäre Nagib Machfus also zuzugeben. Aber nichts könnte größer sein als der Unterschied zwischen einer Schriftkultur und einer Buchdruckkultur. Die eine setzt auf das Erleben des gesprochenen, die andere auf die Kritik des geschriebenen Wortes. Und erst am Bildschirm des Computers finden sie zueinander. DIRK BAECKER

Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle regelmäßig über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag des Monats