Die Drei von der Tätowierstube

Blasse Zeichnungen auf welker Haut und andere gelebte Utopien: Der Dokumentarfilm „Flammend’ Herz“ stellt Herbert Hoffmann, Albert Cornelissen und Karlmann Richter vor – drei alte Männer, die ihr Leben dem Tätowieren widmeten

VON CLAUS LÖSER

Noch vor zwanzig Jahren stellten Tätowierungen vor allem Stigmata des Außenseitertums dar: Biker, Schausteller, Seeleute oder Exhäftlinge distanzierten sich mit ihnen vom gesellschaftlichen Konsens, verwiesen gleichzeitig auf ihre Zugehörigkeit zu einer eigenen, verschworenen sozialen Gruppe. In dem Maße, mit dem Tattoos zunehmend zum Allgemeingut avancierten, erfolgte ihre Umcodierung vom subkulturellen Signal zum massenhaft praktizierten Mainstream. Inzwischen genügt eine Fahrt mit der U-Bahn oder ein kurzes Durchzappen der Fernsehkanäle, um festzustellen, in welchem Umfang Tätowierungen Gemeingut geworden sind. Teenager und Beamte tragen sie ebenso unbekümmert zur Schau wie Olympiasieger und Schlagersänger. Aus einer Attitüde des Außenseitertums wurde binnen kurzer Zeit eine müde Geste der Anpassung – die vollständige Absorption der einstigen Protestgebärde durch die Mode ist längst vollzogen.

Oliver Ruts hat diesen Trend maßgeblich begleitet. Als der gelernte Tischler und Restaurator Anfang der Neunziger in Süddeutschland sein erstes Tattoo-Studio eröffnete, war er der einzige Anbieter dieser Dienstleistung weit und breit. Kurz darauf boomte die Hautmalerei in Deutschland insgesamt, vorsichtige Schätzungen gehen von 2.500 Mitbewerbern aus, die sich den noch immer wachsenden Markt teilen. Ruts zog vom Bodensee an die Spree, wo er in Prenzlauer Berg noch immer sein „Pain & Ink Department“ betreibt. Vielleicht war es das schlechte Gewissen, die eigene Leidenschaft durch erfolgreiche Vermarktung ihres Kontextes beraubt zu haben, das Ruts zu einem Film über drei betagte Kollegen drängte.

Herbert Hoffmann (84), Albert Cornelissen (90) und Karlmann Richter (90) haben ihr Leben der gemeinsamen Passion gewidmet; ihre sozialen und psychischen Hintergründe könnten dabei kaum unterschiedlicher ausfallen. Hoffmann wurde in Pommern geboren, lebt heute in der Schweiz, wo er hin und wieder noch Klienten mit irreversiblen Verzierungen versieht. Cornelissen war Seefahrer, umkreiste mehrmals den Erdball, war – im Gegensatz zu seinen Mitstreitern – stets den Frauen zugetan. Richter schließlich brach aus seinem großbürgerlichen Leben und der von den Eltern zwangsverordneten Ehe mehrfach aus, vollzog die endgültige Trennung aber erst im Alter von 57 Jahren. Gemeinsam betrieben die Männer in Hamburg jahrelang die „Älteste Tätowierstube Deutschlands“ und lebten dort in einer WG. Das Gewerbe im Erdgeschoss florierte und erwarb sich einen legendären Ruf in Deutschland und der Welt, gleichzeitig wurde das Geschäftshaus zum Ort gelebter Utopie.

Doch wer will schon einen abendfüllenden Film über welkes Fleisch mit verblassenden Zeichnungen sehen? Gibt es eine relevante Zielgruppe für die Lebensgeschichten dreier Männer am Ende ihres Lebens? Gegen die Widerstände des Quotendenkens gelang es Oliver Ruts und Andrea Schuler, ihre Vision umzusetzen. Die angenehmste Überraschung der Dokumentation besteht dabei gerade in der Tatsache, dass „Flammend’ Herz“ weder ein Exkurs über die historischen Hintergründe des Tätowierens noch eine Anpreisung der augenblicklichen Mode darstellt. Vielmehr entwerfen die Filmemacher eine an Höhen und Tiefen sehr reiche zwischenmenschliche Konstellation, in deren Verlauf der ursprüngliche Aufhänger des Unterfangens – das Tätowieren – zurücktritt und zur Folie universeller Existenzfragen wird.

„Flammend’ Herz“. Regie: Andrea Schuler, Oliver Ruts. Deutschland 2004, 90 Min.