Eine gigantische Wahlmaschine

Demokratie mit Hindernissen: Niedrige Wahlbeteiligung ist in den USA auch ein Effekt des komplexen Wahlverfahrens. Bei der Präsidentschaftswahl am 2. November wird nicht bloß über Bush oder Kerry abgestimmt, sondern auch über eine Vielzahl von Senatoren, Richtern und selbst Sheriffs

VON SEBASTIAN MOLL

Von Europa aus sehen die Dinge in Amerika bisweilen ziemlich simpel aus. Primitiv, meinen diejenigen, denen ihre antiamerikanischen Vorurteile lieb und teuer sind. So natürlich auch die Präsidentschaftswahl: Bush oder Kerry, das ist ein Showdown à la High Noon, bei dem am Ende nur einer noch steht. Richtig? Nicht ganz.

Sicher, das Mehrparteiensystem in den USA ist oft eine Farce, der unabhängige Kandidat Ralph Nader wird selbst von vielen eingefleischten Linken als Störenfried oder bestenfalls als Exzentriker angesehen. Und ein Verhältniswahlrecht, wie es der europäischen Tradition entspricht, gibt es auch nicht – der Wahlzettel in den USA ist also nicht mit verwirrenden Listen von Kandidaten- oder Parteinamen voll gekleistert, die man noch nie gehört hat.

Ganz einfach ist das Wählen für US-Bürger trotzdem nicht. Im Gegenteil, es ist nicht zuletzt die Komplexität des amerikanischen Wahlverfahrens, die für die traditionell niedrige Wahlbeteiligung von rund 50 Prozent verantwortlich ist. Das beginnt bei der bürokratischen Hürde der Wählerregistrierung, die zum Teil auf die Abwesenheit einer Meldepflicht zurückzuführen ist, zum Teil auf das Misstrauen der Politik gegenüber ihren Bürgern und somit gegenüber der Demokratie selbst.

Im 19. Jahrhundert hielt die Registrierungspflicht ungebildete und sprachunkundige ehemalige Sklaven und europäische Einwanderer von der Urne fern. Angenommen, man hat diese Hürde nun aber genommen und steht am Wahltag in dem zugewiesenen Wahllokal, dann tritt man nicht wie in Deutschland in eine improvisierte Kabine aus Pressspan rund um einen Schultisch herum und füllt seinen Zettel aus. Vielmehr steht man erst einmal Schlange, denn in den USA wird nicht per Zettel abgestimmt. Die Wahlen in den USA finden mittels einer komplizierten Wahlmaschine statt, von denen aber jeder Wahlkreis nur eine besitzt.

Neal Rosenstein, Koordinator für Regierungsreform bei der Bürgervereinigung „New York Public Interest Research Group“, bezeichnet diese Maschine als „einen Riesen-Abakus“. „Man tritt an sie heran und zieht einen großen roten Hebel“, sagt Rosenstein, „und hört, wie die 20.000 beweglichen Teile des Apparats gleichzeitig in Nullstellung gehen.“ Wenn man endlich dran ist, natürlich.

Dann steht der Wähler vor einem großen verwirrenden Tableau. Gewählt wird bei einer Wahl wie in diesem November nämlich nicht nur der Präsident, sondern auch das Repräsentantenhaus, in einigen Staaten die Senatoren, die Parlamente des jeweiligen Staats sowie eine ganze Reihe regionaler und lokaler Amtsträger wie Richter oder Sheriffs. Auf dem Tableau sind alle Kandidaten für alle diese Rennen nach dem jeweiligen Wahlkampf und der jeweiligen Partei angeordnet und jeweils mit einem Schalter versehen, den man umlegt, um von der Maschine seine Stimme registrieren zu lassen.

Als ob das noch nicht kompliziert genug wäre, stimmen die Partei, die man wählt, und der Kandidat nicht unbedingt auf allen Ebenen überein. Die Parteien haben das Recht, ihre Stimmen dem Kandidaten einer anderen Partei zugute kommen zu lassen – kleine Parteien wie etwa die Grünen oder die Working Families Party übertragen nicht selten ihre Stimmen einem demokratischen oder republikanischen Kandidaten. „Bei lokalen Wahlkämpfen hat man deshalb manchmal die ulkige Situation“, so Rosenstein, „dass man die Demokraten wählt, aber damit für einen republikanischen Kandidaten stimmt.“

Darüber hinaus stehen auf der Maschine die klein gedruckten Anweisungen zum Wählen in vielen Sprachen, auf Englisch, Spanisch, Chinesisch und Koreanisch – so will es im Staat New York zumindest das Gesetz.

Bush oder Kerry – so einfach ist die Sache für den amerikanischen Bürger also bei weitem nicht. Das Wahlrecht stellt an die Amerikaner vielmehr ziemlich hohe Anforderungen. Das ist ein direktes Resultat des Demokratiebegriffs, den die Gründerväter in der Verfassung formuliert hatten. Die amerikanische Verfassung ist ein delikates Konstrukt, das eine Balance zwischen der Zentralregierung, der Regierung der Staaten und der Macht des Individuums herstellt. Viele der heutigen Institutionen sind ein Resultat des „großen Kompromisses“, der die Ratifizierung der Verfassung 1791 erst möglich machte. Die „Federalisten“ wollten eine starke Zentralregierung, die „Antifederalisten“ suchten aus der Kolonialerfahrung heraus die Macht des Individuums zu stärken, und die kleineren der dreizehn Gründerstaaten hatten Angst, nicht angemessen repräsentiert zu werden.

Das Wahlmännerkolleg etwa ist eine Erfindung aus jener Zeit und soll die angemessene Repräsentierung bevölkerungsarmer Staaten bei der Präsidentschaftswahl garantieren. Ebenso wie die Aufteilung des Parlaments in Senat und Repräsentantenhaus: Im Repräsentantenhaus werden die Staaten nach Bevölkerungszahl repräsentiert, im Senat ist jeder Staat gleich repräsentiert.

Der 17. Verfassungszusatz gab indes die Macht, den Senat zu wählen, von den Staatsparlamenten zurück an die Wähler – eine Korrektur des Systems zugunsten des Volkes und zuungunsten des Staates. Ein basisdemokratisches Regierungsverständnis, das auch in der Wahl öffentlicher Ämter wie die des Richters oder Sheriffs zum Ausdruck kommt.

Der große Abakus ist indes das Ergebnis der starken amerikanischen Tradition des prozeduralen Liberalismus. Die Aufgabe der Regierung ist es gemäß dieser Denktradition, die ebenfalls auf die antifederalistische Fraktion der Gründerväter zurückgeht, allein gerechte Verfahren zu entwerfen und zu garantieren. Der Abakus schließt menschliches Versagen aus, und solange Computer nicht manipulationssicher sind, ist der Widerstand dagegen groß.

Neal Rosenstein etwa fände es schade, wenn die alte mechanische Maschine abgeschafft würde: „Es ist doch schön, dass das Abgeben der Stimme ein tatsächlicher physischer Prozess ist. Man kann hören und spüren, dass man etwas in Gang gesetzt hat.“ Wenn der Amerikaner sein Bürgerrecht wahrnimmt, klackern und klingeln zehntausende kleiner Teile.