Klein-Hanoi in Hellersdorf und Halle

Fünfzehn Jahre nach der Wende werden die Vertragsarbeiter in der DDR zu einem Forschungsthema. Wissenschaftler fordern, die Vietnamesen in der gesamtdeutschen Zuwanderungsdebatte nicht zu vergessen. Ihre Zahl wird heute auf 40.000 geschätzt

AUS BERLIN MARINA MAI

Ihre Zahl ist gering, und sie kamen unter ganz anderen Bedingungen als die Zuwanderer im Westen. Aber unter den 190.000 ausländischen Zivilisten, die zuletzt in der DDR lebten, stellten sie mit rund 60.000 Menschen die bei weitem größte Gruppe: die vietnamesischen Vertragsarbeiter.

Fünfzehn Jahre nach der Wende werden sie nun zu einem Thema der Forschung. Historiker aus dem britischen Wolverhampton durchforsten die Archive zwischen Potsdam und Merseburg nach Dokumenten über die Vietnamesen, die ab 1980 in die DDR geholt wurden, um personelle Engpässe in der Produktion zu stopfen. In der Textil- und Schuhindustrie, in Bergbau und Maschinenbau, in Betriebsküchen und auf Baustellen verrichteten sie einfache Handarbeiten, für die sich keine DDR-Bürger mehr fanden. Und der vietnamesische Staat verdiente kräftig mit: 12 Prozent des Bruttoeinkommens und die Beiträge für die Rentenversicherung flossen in die Hanoier Staatskasse.

Für die Vietnamesen war die Vertragsarbeit in einem so genannten sozialistischen Bruderland die einzige Chance, der bitteren Armut im Nachkriegsvietnam für einige Zeit legal zu entkommen. Sie kamen alle freiwillig, wollten sie doch mit dem Verdienst ihre Familienangehörigen in Vietnam unterstützen. In vielen Fällen musste ein Familienoberhaupt einen Funktionär bestechen, damit Sohn oder Tochter auf die Liste als Vertragsarbeiter kamen.

Zu Beginn schickte Vietnam viele ehemalige Armeeangehörige. Der Staat fühlte sich verpflichtet, ihnen für ihren Dienst am Vaterland eine zivile berufliche Perspektive zu geben. Im eigenen Land war das nicht möglich. Die DDR sollte sie ausbilden und beschäftigen, um sie auf den Arbeitsmarkt in Vietnam vorzubereiten.

Doch ab Mitte der Achtzigerjahre war von Ausbildung nur noch in der Propaganda die Rede, in der sich die DDR vom „Gastarbeitermodell“ im Westen unterscheiden wollte. Die marode DDR-Wirtschaft brauchte immer mehr einfache Handarbeiter. Die Zahl der Vertragsarbeiter schnellte in die Höhe. Und welchen Sinn hatte es für eine Vietnamesin, zu lernen, wie man Kartoffeln und Kohlroulade kocht? Unter den Bedingungen einer Großkantine, die es in Vietnam nicht gibt?

So beschränkte sich das „Lernen“ auf einen zwei- bis sechswöchigen Deutschkurs und das Anlernen im Betrieb. Integration war nicht gewollt, sollten die Vertragsarbeiter doch wieder ausreisen. Was die Vietnamesen trotz der relativ guten Verdienstmöglichkeiten belastete, waren die Restriktionen, denen sie unterworfen waren, vonseiten der DDR wie der vietnamesischen Funktionäre: Sie mussten in Wohnheimen auf engstem Raum leben. Frauen durften keine Kinder bekommen.

Das Leben der Vietnamesen war bis ins Kleinste reglementiert: Es gab Regeln, wie viele Fahrräder man nach Vietnam schicken durfte und wie oft man mit der Bahn innerhalb der DDR verreisen durfte. Die Post wurde ebenso überwacht wie die Sauberkeit der Zimmer. Und das von Wohnheimbetreuern, die auf den südostasiatischen Kulturkreis nicht vorbereitet waren. Das hatte manchmal sein Gutes: Einzelne Vietnamesen konnten über Jahre untertauchen, weil die Wachdienste die Männer und Frauen aus Asien so schlecht voneinander unterscheiden konnten.

Heute fordert Karin Weiss, Professorin für Sozialarbeit an der Fachhochschule Potsdam, die ehemaligen Vertragsarbeiter im gesamtdeutschen Zuwanderungsdiskurs nicht zu vergessen. „Ich beobachte bei Vietnamesen eine zunehmende Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft“, kritisiert Weiss. Anfang der Neunzigerjahre wurde die Zahl der noch in Deutschland verbliebenen vietnamesischen Vertragsarbeiter auf rund 13.000 geschätzt. Trotz dieser niedrigen Zahl wehrten sich Innenpolitiker bis 1997 hartnäckig, den Vietnamesen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren.

Die Jahre in Ungewissheit führten zu einer Flucht vieler Vietnamesen in halblegale Strukturen. Daraus entwickelte sich eine von der Mehrheitsökonomie abgeschottete vietnamesische Ökonomie im Osten Deutschlands. Mit nachgeholten und hier geborenen Familienangehörigen leben heute wieder rund 40.000 Vietnamesen in Deutschland.