„Die Unionsparteien müssten bei den Reformen radikaler sein“, sagt Paul Nolte

Alle Versuche, die SPD links zu überholen, führen nach Ansicht des Bremer Geschichtsprofessors in die Sackgasse

taz: Herr Nolte, Sie beklagen in Ihrem jüngsten Buch das Verschwinden des Konservatismus in Deutschland. Erleben wir dieses Phänomen nun auf der parteipolitischen Ebene?

Paul Nolte: Vom Verschwinden der CDU würde ich lieber nicht reden, schließlich haben wir vor acht Wochen noch das Verschwinden der SPD beklagt. Aber die CDU hat fundamentale Orientierungsschwierigkeiten. Die Verständigung, wie weit sie als Reformpartei gehen soll, ist stecken geblieben.

Weil die CDU fürchtet, mit Radikalreformen wie der Kopfpauschale die Wahl 2006 zu verlieren?

Eine Bundestagswahl gewinnt man nicht, indem man auf Umfragezahlen schaut. Regierungswechsel gab es in Deutschland immer nur, wenn sich ein neuer Zeitgeist Bahn brach. Das galt bei Willy Brandt genauso wie bei Helmut Kohl oder bei Gerhard Schröder. Was ein bürgerlich-liberales Projekt für 2006 oder 2010 sein könnte, das weiß die Union derzeit selbst noch nicht.

Hat sich Rot-Grün nicht längst zur Trägerin eines bürgerlichen Projekts gemacht?

Rot-Grün wollte 1998 das Vermächtnis der Achtundsechziger erfüllen. Man dachte: Wenn wir die Homoehe oder den Atomausstieg geschafft haben, dann ist das Ende der Geschichte erreicht. Das klappte nicht, deshalb musste das gesamte rot-grüne Projekt umdefiniert werden. Damit entfällt für die Opposition eine Möglichkeit, sich zu profilieren.

Mit einer Unterschriftenaktion gegen den EU-Beitritt der Türkei glaubte Angela Merkel ein Thema gefunden zu haben, um sich von Rot-Grün abzugrenzen. Warum ist sie gescheitert?

Weil die CDU dafür längst nicht mehr borniert genug ist. Die Meinungen über den Türkei-Beitritt gehen in der Partei weiter auseinander, als Merkel glaubte. Das unterschätzt zu haben ist ein schwerer politischer Fehler. Ich halte es für sehr gefährlich, ausgerechnet an dieser Stelle einen konservativen Anker auszuwerfen.

Wo sonst kann sich die CDU von der SPD noch unterscheiden?

Auch wenn es nicht so populismusträchtig ist: Heute sind es die Konservativen, die das Projekt der Moderne gegen die Linken verteidigen müssen. Sie sollten Rot-Grün sagen: Hört doch mal auf, die Gentechnik zu verhindern oder an jedem Gewerbegebiet herumzukritteln. Wir brauchen diese gesellschaftliche Dynamik.

Wo liegt dann noch der Unterschied zum Autokanzler Schröder?

Die CDU müsste bei den Reformen radikaler sein. Sie könnte sagen: Wir wollen bei der Krankenkasse nicht wieder alles umverteilen wie die SPD mit ihrer Bürgerversicherung. Wir wollen die Kopfpauschale, weil die Leistungen des Gesundheitssystems ein Wirtschaftsgut sind wie Lebensmittel oder Kleidung. Für ein T-Shirt oder einen Liter Milch zahlt auch jeder das Gleiche. Das wäre eine klare Position, die unterscheidungsfähig wäre.

Manche CDU-Politiker halten es für erfolgversprechender, Rot-Grün von links zu überholen. Macht die CSU im Gesundheitsstreit vor, wie eine solche Strategie funktionieren könnte?

In der klassischen Reformpolitik kann ich mir die Union nicht links von der SPD vorstellen. Das würde ganz klar in eine Sackgasse führen. In der Gesundheitsdebatte sind den Beteiligten offenbar die gesellschaftspolitischen Konsequenzen ihrer eigenen Konzepte gar nicht klar. Wenn man Stoibers Vorschlag einer geringen Kopfpauschale plus Steuerausgleich zu Ende denkt, dann ist das eine Art Bürgerversicherung – und damit das Gegenteil dessen, was die CSU eigentlich wollte: den Status quo erhalten.

Ist das nicht einfach Politik?

In der Phase der konkreten Gesetzgebung sind wir ja noch gar nicht. Es geht darum, grundsätzliche Vorschläge für die nächste Legislaturperiode zu machen. Da begibt sich die Union völlig unnötig in eine Falle, wenn sie jetzt die genaue Höhe einer solchen Prämie festlegen will.

Ist Merkel die böse Frau aus dem Osten, die das westdeutsche Erfolgsmodell demontieren will – wie ihre Konkurrenten aus dem Westen offenbar meinen?

Die Fronten verlaufen nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Bundes- und Landespolitik. In Berlin gibt es einen großen Reformkonsens fast aller Parteien, aus dem nur die CSU ausschert. Landespolitiker wie Roland Koch oder Christian Wulff haben andere Sorgen. Sie wollen die Reformdebatte gar nicht ernsthaft führen.

Also ist der deutsche Föderalismus das eigentliche Problem?

Der Föderalismus gibt den Blockierern lediglich ein Instrument in die Hand. Das Hauptproblem ist der Unwille, die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Niemand löst sich gern von Modellen, mit denen man jahrzehntelang scheinbar gut gefahren ist.

Sie gelten selbst als Radikalreformer. In welchem der beiden politischen Lager sehen Sie Ihre Vorstellungen besser aufgehoben?

Im Grunde bin ich noch immer ein Anhänger schwarz-grüner Koalitionen, auch wenn von dieser Option in letzter Zeit kaum noch die Rede ist. Solche Bündnisse scheitern im Moment eher an der CDU als an den Grünen. Die nötige Überlappung der Lebensstile wird von CDU-Politikern wie Roland Koch nicht glaubwürdig repräsentiert.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN