„Ich bin Hooligan“

Ein Gespräch mit Mark E. Smith, dem Sänger der Band The Fall, über das Leben als Punkrocker mit 47 Jahren. Wenn man pleite ist, im Krankenhaus die Schmerzmittel nicht mehr anschlagen und die Rockmusik von Mittelschichtskindern übernommen wird

INTERVIEW MAX DAX

taz: Mr. Smith, im Juni sind Sie bei einem Konzert von der Bühne gefallen und haben sich dabei die Hüfte gebrochen. Denkt man da: Warum tue ich mir das in meinem Alter noch an? Immerhin gehen Sie auf die 50 zu.

Mark E. Smith: Fünfzig? Ich? Ich bin 47. Als ich damals, 1977, The Fall gegründet habe, da haben wir uns in der Band alle um drei bis vier Jahre älter gemacht, als wir in Wirklichkeit waren. Wir hätten sonst, so jung wie wir waren, nicht auftreten dürfen.

Keine Verschleißerscheinungen nach 30 Jahren Punkrock?

Ich sage Ihnen mal was: Ich habe noch nie so viel Schmerzen gehabt wie nach diesem Unfall. Ich bin ein ziemlich harter Hund, das können Sie mir glauben, aber das waren Schmerzen! Vor zwei Jahren habe ich mir mal das linke Bein gebrochen – das war im Vergleich dazu eine entspannte Pinkelpause. Außerdem habe ich ein Problem: Bei mir wirken Schmerzmittel nicht mehr. Man muss mir Morphium geben, damit ich überhaupt etwas spüre. Natürlich habe dieses verfickte Hotel in Newcastle verlassen, sobald sich die Möglichkeit dazu ergab.

Hotel?

Sagte ich Hotel? Ich meinte Hospital! Die haben mich vollgepumpt mit Morphium, das war so viel, damit hätte man ein Boot voller betrunkener Seeleute kentern lassen können.

Hat nur noch Morphium bei Ihnen angeschlagen, weil Sie jede Menge Drogenkonsum hinter sich haben?

Hmm. Wissen Sie: Meine Eltern haben mich so erzogen, dass ich bis heute eine gesunde Scheu gegenüber der Schulmedizin habe. Ich habe lange Zeit noch nicht einmal Aspirin geschluckt. Glauben Sie mir. Oder glauben Sie mir nicht.

Sie wollen damit sagen, dass Sie normalerweise Pillen nicht schlucken, weil da Chemie drinsteckt? Und woraus besteht Speed?

Im Hospital haben sie mir haufenweise Pillen gegeben. Viel zu viele. Ich lehne das ab. Statt einer anständigen Behandlung pumpen die einen voll. Schlimm ist es vor allem, wenn man zuvor getrunken hat! Meine Güte! Ich war voll, als sie mich eingeliefert hatten, und sie gaben mir diese Pillen. Zusammen wirkte das wie Acid! Diese Wissenschaftler sind schon ein seltsames Völkchen. Mixen da Pillen zusammen, die viel gefährlicher sind als all das, was einem so auf der Straße verkauft wird.

Wissen Sie eigentlich, dass ich 2000 in England Bankrott anmelden musste? Für mich war die Pleite wie ein Schock. Ich weiß ja nicht, wie so etwas in Deutschland gehandhabt wird. In England ist es so: Sie können eingehende Rechnungen an den Adressaten mit der Bemerkung „Bankrott“ zurückschicken – und müssen diese dann nicht bezahlen. Wissen Sie, überflüssige Rechnungen wie Miete für Proben und so etwas. Absurderweise haben mir das viele nicht geglaubt, denn zeitgleich haben sie mein Gesicht auf den Titelbildern von Zeitschriften gesehen. Das begreifen die Leute einfach nicht – dass man berühmt sein kann und trotzdem kein Geld verdient.

Haben Sie auch etwas Positives aus Ihrer Misere ziehen können?

Mir hat die ganze Geschichte die Augen geöffnet. Ich meine: menschlich. Leute, von denen man es am wenigsten erwartet hätte, haben mir geholfen, haben mir die Hand gereicht. In den Pubs haben mich die fetten Typen plötzlich auf ein Bier eingeladen, von denen ich immer dachte, sie wären seltsam.

Verarbeiten Sie solch existenzielle Erlebnisse in Tagebüchern? Oder bereiten Sie gar eine Autobiografie vor?

Nein, nein. Nichts dergleichen.

Aber Sie erleben viel. Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, Ihr Kopf würde platzen, Ihre Festplatte überlaufen?

Nein, nein. Ich bin doch nicht Nick Cave. Der veröffentlicht doch immer Schallplatten mit seinen Tagebüchern. So wie der will ich nicht enden. Amen. Nein, ich vernichte alle Erinnerungen. Ich werfe jede Quittung, jede Eintrittskarte, die mich an etwas erinnern könnte, einfach weg.

Andererseits scheinen Ihre Fans jeden Ihrer Schritte im Internet zu archivieren. Es ist erstaunlich, was man da so alles über Sie erfahren kann.

Ich bekomme pro Woche ungefähr einen Umzugskarton voll mit Artikeln und Notizen und Abschriften von Newsgroups über meine Person – alles von irgendwelchen Leuten aus dem Internet zusammengetragen. Woche für Woche. Ich werfe das immer gleich weg. Meine Band versteht das nicht. Die denken, ich sei völlig arrogant.

Genießen Sie es noch, wenn Sie auf Tournee sind?

Die letzten drei Monate waren interessant. Ich habe Konzerte im Rollstuhl gegeben – wegen meiner Hüfte. Jetzt kann ich wieder stehen. In Amerika sind sie zu Menschen in Rollstühlen sehr unhöflich, machen den Weg nicht frei, rempeln einen an. In England hingegen öffnet sich einem stets eine Gasse zwischen den Menschen.

Und wenn Sie nicht auf Tournee sind, wenn Sie sich zu Hause in Manchester aufhalten?

Die Stadt wird immer teurer, immer hipper. Heute leben die ganzen Fußballspieler in ihren Lofts im Zentrum – und wir Künstler müssen wegziehen.

Sie haben sich aber auch stets mit einer gewissen Vehemenz gegen jeden kommerziellen Erfolg gewehrt.

Oh, Sie haben schon Recht, wenn Sie sagen, dass das Scheitern mein Leben ist, aber ich kann Sie beruhigen: The Fall haben zur Zeit großen Erfolg in Amerika.

Anders gefragt: Was gibt Ihnen die Kraft, Ihren Weg weiterzugehen?

Ich mag es, Songs zu schreiben. Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass der Beruf des Musikers heutzutage ein ganz gewöhnlicher Mittelklasseberuf geworden ist. Wenn ein Sohn heute zu seinem Vater sagt, dass er Gitarrist in einer Rock-’n’-Roll-Band werden will, dann hört er kein „Fuck off!“ mehr, sondern er bekommt einen anerkennenden Klaps auf die Schulter. Wir sind kürzlich in New York gewesen und haben die Strokes getroffen. Deren Mitglieder sind wie ihre Eltern: Einer von den Vätern der Strokes arbeitet in der Plattenindustrie, einer in der Modeindustrie, ein anderer hatte selbst mal eine Band und so weiter. Die Strokes sind einhundert Prozent Mittelklasse.

Verrät eine Band wie The Strokes irgendwelche Ideale, für die The Fall stehen?

Gute Frage. Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen. Ich muss erst noch darüber nachdenken, wie rasant und wie nachhaltig sich die Zeiten ändern.

Sie wirken viel entspannter als noch vor, sagen wir: zehn Jahren.

Ich bin glücklich, dass ich noch am Leben bin.

Weil Sie auch hätten unter die Räder kommen können?

Sie hätten mich mal in den Siebzigern sehen sollen. Ein Wunder, dass ich das damals überlebt habe. Es brauchte bei mir nicht Punk, um durchzustarten.

Sie meinen: Hätte es Punk damals nicht gegeben, hätten Sie Punk einfach erfunden?

Keine Ahnung. Ich kann mich an nichts mehr erinnern.

Was für eine Genugtuung ziehen Sie eigentlich heute aus fast 30 Jahren The Fall?

Als ich pleite war, da habe ich feststellen müssen, dass ein normaler Mensch arbeiten muss, um sich sein Essen kaufen zu können. Also habe ich weitergemacht.

Sie meinen: The Fall ist leicht verdientes Geld – wenngleich vielleicht nicht auf höchstem Niveau?

Na ja: Wenn man nicht wegen der Frauen in einer Band ist, dann wegen des Geldes, oder?

Aber das bekommt das Publikum ja nicht mit. Für das Publikum ist der Sänger auf der Bühne im Idealfall ein Rollenmodell, eine Idealfigur, einer, auf den man seine Träume und Wünsche projizieren kann.

Auf mich? Aber Sie haben Recht: Das wird sich nie ändern. Meine Fans in Amerika sind 15, 16 Jahre alt. Viele von denen müssen – wie wir damals – schummeln, um meine Konzerte sehen zu können. Die machen sich älter. In Amerika werde ich von Fans angesprochen, die mir erzählen, dass sie auf einem Konzert einer weißen Band noch nie einen schwarzen Besucher gesehen hätten. In Amerika ist ein Konzertbesuch etwas Ähnliches wie ein Kinobesuch – Unterhaltung. Sobald eine Band ihre Unterhalterrolle verlässt, passt das in Amerika nicht mehr ins Programm. Vielleicht ziehen wir deshalb so viele Außenseiter an?

Wie würden Sie den Status von The Fall heute einschätzen?

Glauben Sie es mir, oder glauben Sie es mir nicht: The Fall sind heute relevanter denn je.

Warum?

Weil ich durchgehalten habe.

Schönes Hemd tragen Sie da übrigens. Aus Italien?

Nein. Das ist von einem Schneider aus Manchester. Ich muss mich irgendwie absetzen von dem Rest der Menschen. In Manchester, müssen Sie wissen, trägt man heutzutage Trikots von ManU. Das ist nichts für mich. Ich bin doch kein Papagei.

Sind Sie denn noch Fußballfan?

Ich war mal Fan.

Aber Punkrock und Fußball – das gehört doch irgendwie zusammen, oder?

Ich habe aufgehört mich für Fußball zu interessieren, als sie anfingen die Stadien umzubauen – und Sitzplätze an Stelle der Stehplätze installierten. Die Mittelklasse geht heute in die Stadien. Das hat einfach nichts mehr mit echtem Fußball zu tun. Die Hooligans waren die fadenscheinige Begründung, um eine gesellschaftliche Veränderung zu erwirken, die niemand wollte. Niemand wollte, dass die Mittelklasse die Hoheit in den Arenen übernimmt. Niemand wollte, dass Familien mit ihren Kindern in die Fußballstadien gehen und dort picknicken. Ich bin der Hooligan, den sie erfolgreich vertrieben haben.

Vor kurzem erst wurden Sie von einem Gericht in Amerika verurteilt, keinen Alkohol mehr anrühren zu dürfen.

Ah ja, ich erinnere mich. Die haben mich in Therapie geschickt. Aber jetzt trinke ich ja wieder.