Ein Fuchs im Volkspalast

„Er ist ein Dieb, ein Mörder! Ich darf es kühnlich behaupten; Ja es wissen’s die Herren, er übet jeglichen Frevel.“ Goethe war in Hochform als er Reineke, den Fuchs, beschrieb. Der Ruf des roten Nachtgängers war allerdings auch sonst nie der Beste. Als Strauchdieb und Raubritter hat man ihn verleumdet, und auch die Wissenschaft war wenig neutral. „Der sprichwörtlich schlaue Fuchs ist ein ausgemachter Opportunist, der jede Gelegenheit zur Nahrungsbeschaffung nutzt“, heißt es in Grzimeks Enzyklopädie der Säugetiere.

Jede Gelegenheit? Die zurzeit im Volkspalast, dem ehemaligen Palast der Republik, tätigen Kulturarbeiter zeichnen ein anderes Bild. Seit einiger Zeit lebt mit ihnen ein Fuchs. Manchmal geht er am frühen Abend, wenn sich oben auf dem Dach tausende russische Krähen kurz sammeln, durch den Haupteingang lässig und neugierig in die Hallen. Er benutze aber alle möglichen Eingänge, sagt der Mann am Kassenhäuschen und glänzt dabei über das ganze Gesicht.

Schön sei er, der Fuchs, sagen alle im Volkspalast Tätigen. Mit dichtem rotem Fell, buschigem Schwanz und wachen Augen. Manchmal schwebe er direkt die Treppe hinter dem Eingang in die obere Ebene hoch, laufe zwischen die Leute und sichte kurz, was die dort treiben. Der Fuchs kenne sich im Palast am allerbesten aus, heißt es. Ein Regisseur hat ihn bereits filmisch festgehalten. Etwas abseits vom zentralen Vortragsplatz erwacht der Fuchs nachmittags mit den durch das Dach brechenden Sonnenstrahlen, räkelt sich und beginnt dann seine Inspektionen.

Dass es Füchse in die Städte zieht, dürfte sich rumgesprochen haben; auch dass der Alexanderplatz schon länger regelmäßig von einem aufgesucht wird, ist bekannt. Abends geht er die Tische der Cafés ab, inspiziert die Abfalleimer und sucht unter dem Starenschlafplatz am Dom nach gestorbenen Vögeln, um sie aufzufressen. Nur wo er tagsüber schläft, blieb rätselhaft. Man nahm an, das er zum Schlafen doch „bessere“ Wohngegenden aufsuche. Füchse haben in Städten riesige Streifgebiete, die sie nachts abwandern, bevor sie sich tagsüber schlafen legen. Einer Studie des englischen Fuchsforschers Stephen Harris zufolge bevorzugen sie als Ruheplatz die ruhigen grünen Villenvororte der Städte.

Das tut der Fuchs vom Volkspalast nicht, was die Aussagen der Zwischennutzer vielstimmig eindeutig belegen. Dem Konzept eines experimentellen Raumes der Nutzer, in dem die Öffentlichkeit auf neue Art frei interagieren kann, spricht der Fuchs auf seine Art seine Zustimmung aus. Und es ist in diesem Fall mehr als ein Zufall, dass das in Räumen geschieht, in denen vorher der manisch vom Hirsch-, Wildschwein- und Fuchsjagen besoffene Erich Honecker hauste. Honecker – und das ist das Wunderbare – hat bei den Betreibern das Denken über Füchse genauso wenig verblendet wie Goethe. CORD RIECHELMANN