Die Mission des Aufklärers

Ein Sammelbecken für die Angst: Michael Moores neues Buch „Verraten und verkauft. Briefe von der Front“ liest sich wie eine kollektive Klage. Der Weg zu Aufklärung und politischem Protest führt durch die Verzweiflung. Der Abfall vom Glauben an die Nation ist mit großem Bekenntnisdrang verbunden

VON BERND PICKERT

Es ist kein komisches Buch. Michael Moores jüngste Veröffentlichung, gerade in deutscher Übersetzung bei Piper erschienen, ist wahrscheinlich das humorfreieste Werk, das der Filmemacher und Bush-Hasser aus Flint, Michigan, je veröffentlicht hat. Moore sammelt in diesem Buch Briefe von US-Soldaten, die im Irak im Einsatz sind, Briefe von Angehörigen, und von Veteranen anderer US-Kriege.

An den Beginn hat Moore den Brief von Sergeant Michael Pederson gestellt, des Sohns von Lila Libscomb, jener Mutter aus Flint, die er in seinem Film Fahrenheit 9/11 porträtiert. Pederson schrieb zu Beginn des Irakkrieges: „Wie geht’s euch allen? Mir geht’s ganz gut, wir stecken halt hier in Sand- und Windstürmen und warten; was verdammt noch mal ist bloß mit George ‚ER VERSUCHT SO ZU SEIN WIE SEIN DAD‘ Bush los? Er hat uns für nichts und wieder nichts hierher geschickt. Ich hab gerade eine solche Wut im Bauch, Mama. Ich hoffe wirklich, dass sie diesen Narren nicht wiederwählen. Ich bin okay und ganz guter Dinge; ich vermisse euch alle sehr. Vielen Dank für die Bibel und die Bücher und die Süßigkeiten.“ Es war Michael Pedersons letzter Brief. Moore erklärt: „Ist das nicht das Mindeste, was wir für ihn tun können? In diesem Augenblick wusste ich, was ich für den Rest des Jahres 2004 tun würde: Michael Pedersons Wunsch aus seinem letzten Brief nach Hause erfüllen zu helfen.“

Dieser Mission hat sich Moore nun tatsächlich mit Haut und Haaren verschrieben. Seine Website www.michaelmoore.com ist inzwischen ein Action Guide für die Abwahl von Bush, täglich tritt Moore in anderen Städten der USA auf, wirbt vor vollen Stadien um Erstwähler.

Die Briefe der Soldaten, per E-Mail an Moore gesandt, sind die Briefe von Dissidenten, kein Zweifel. Mehr als einer schreibt, wie er von seinen Kameraden wegen seiner Einstellung angefeindet wird – mehr als einer schreibt aber auch, wie Raubkopien von „Fahrenheit 9/11“ unter den Soldaten kursieren und wie die Wut steigt. Gefreiter Sean Huze schreibt im März 2004: „Ich habe jede Menge tote Kinder zusammen mit zahllosen anderen toten Zivilisten in den Straßen von Nassirija herumliegen sehen. Und in dieser ganzen Zeit hielt ich an dem Glauben fest, dass all dies für ein höheres Ziel geschehen müsse. Dass die Opfer, die wir brachten, sowie die Opfer, die die irakischen Zivilisten bringen mussten, eine Bedeutung hätten.“ Das glaubt er heute nicht mehr.

Verwandte von Soldaten tragen Moore ihre Angst vor. Etwa Dante Zappala über seinen Bruder: „Man kann zu Recht sagen, dass er den übelsten Job der Welt hat – Begleitschutz für Konvois im Sunniten-Dreieck. Wir sind eine Familie, die den Frieden liebt und gegen den Krieg protestiert. Mein Bruder ist ein Pflegekind und zur Army gegangen, um Geld für seinen Sohn zu verdienen und ein besserer Vater zu sein, als es sein eigener war. Und nun lautet sein Auftrag, lebend wieder nach Hause zu kommen, und dazu wird er darin ausgebildet, Kinder zu überfahren, die den Konvois im Weg stehen, weil diese Kinder potenzielle Gefahren darstellen.“ Zwei Monate später war der Bruder gestorben, und weil diese Mitteilung sich nach den Briefen so oft wiederholt, hat das Buch auch etwas von einer Totenklage.

Michael Moores Buch hat etwas Selbstreferenzielles. Die meisten Briefe sind Reaktionen auf „Fahrenheit 9/11“ oder auf Moores Bücher, und die Menschen bestätigen Moore, dass er ihnen die Augen geöffnet habe. Ganz sicher hat Moore auch tausende von Hass-Mails bekommen, die ihn beschimpfen – dazu sagt er nichts. Aber nun: Auswahl ist legitim. Gerade die Angehörigen von Soldaten beschreiben, wie sie im Kino geweint hätten, als sie den Film sahen.

Diese Leute sind nicht gegen das Militär – sie sind überzeugte Militärfamilien, überwältigt von der Vorstellung, ihre Männer, Brüder, Söhne oder Töchter in einem überflüssigen Krieg völlig sinnlos unter Lebensgefahr zu wissen, nur weil es ihrem Präsidenten so gefällt. Wut und Dank sind Motive, die in vielen Briefen auftauchen. Insofern ist die Veröffentlichung der Briefe auch eine Art Cross Promotion innerhalb der millionenschweren Michael-Moore-Maschinerie – die DVD von „Fahrenheit 9/11“ etwa steht vielerorts wiederum auf Platz eins der Verkaufscharts.

Aber das neue Buch als irgendwie kitschigen Kommerz zu beschreiben, würde viel zu kurz greifen. Solche Briefe haben eine subversive Kraft, sie knüpfen bei den Vietnamveteranen an, die Ende der 60er-Jahre der Regierung ihre Orden um die Ohren warfen. Das Pathos, das in vielen Briefen und auch in Moores Einführung steckt, gehört zum US-amerikanischen Diskurs zwingend dazu – und wahrscheinlich lösen die Fragen von Leben und Tod, Verrat und Betrug auch einfach zu große Gefühle aus, um nüchterner darüber zu schreiben. Und letztlich: Michael Moore hat ja in all seinen Büchern und Filmen nichts thematisiert, was nicht in den Regalen der US-Buchläden tausendfach nachzulesen gewesen wäre – aber eben nicht gelesen wurde.

Erst Moore hat den Ton getroffen, um ein Massenpublikum zu erreichen. Dies bestätigt ihm eine Angestellte aus einem Luftwaffenstützpunkt in Washington State: „Als ich Lila, die Frau in ‚Fahrenheit 99/11‘, deren Sohn im Irak umgebracht wurde, weinen sah, habe ich auch geweint. Mir bricht das Herz, wenn ich sehe, was Bush und seine Regierung unserem Volk angetan haben … Der Schlüssel hier ist Aufklärung. Wir müssen unser Land zurückerobern. Danke, dass Sie als Katalysator dafür wirken!“

Michael Moore: „Verraten und verkauft. Briefe von der Front. ‚Will They Ever Trust Us Again?‘“ Piper, 269 Seiten, 16,90 €