Nation von Schlafwandlern

Unter Amerikas Intellektuellen herrscht Fassungslosigkeit ob der politischen Entwicklungen der letzten vier Jahre – und Einigkeit über die absolute Dringlichkeit einer Abwahl von George Bush

VON SEBASTIAN MOLL

Der New Yorker Schriftsteller Gary Indiana weigert sich, sich den Vorwurf des Nihilismus und des Pessimismus gefallen zu lassen, der ihm häufig gemacht wird. „Ich bin Realist“, sagt er, obgleich seine Diagnose der derzeitigen politischen Landschaft in den USA in den Ohren des amerikanischen Mainstreams wie schwärzeste Schwarzmalerei klingen dürfte: „Ich glaube nicht, dass Amerika Gefahr läuft, ein faschistisches Land zu werden. Wir sind schon längst ein faschistisches Land. Faschismus fängt nicht beim Holocaust an, Faschismus ist die Herrschaft der Konzerne – und die haben wir.“

Indiana fühlt sich mehr als unbehaglich im Amerika von George Bush, und damit ist er nicht alleine. Es gibt kaum einen amerikanischen Intellektuellen, der nicht angesichts der politischen Entwicklungen der vergangenen vier Jahre fassungslos wäre. „Wir leben in einer Checkov'schen Zeit tiefer Desillusionierung und tiefer Enttäuschung“, sagt der linke Theologe und schwarze Bürgerrechtler Cornel West. „Uns bleibt nur, das Leid auszuhalten und uns durch die Dunkelheit zu kämpfen.“ –„Amerika ist eine Theokratie geworden“, diagnostiziert der New Yorker Dichter Glenn O'Brien schockiert, „unsere Regierung besteht aus Extremisten.“

Darüber, dass das Abwählen von George Bush dringlich und notwendig ist, herrscht unter amerikanischen Intellektuellen unzweifelhaft Einigkeit. „Man sollte die Bushs aus dem Land jagen und sie aufknüpfen“, macht Gary Indiana seiner Wut über die derzeitige Regierung Luft. Schon, um das Allerschlimmste zu verhindern. Der nächste Präsident wird vermutlich ein bis zwei Verfassungsrichter berufen und davor hat derzeit die amerikanische Linke am meisten Angst: „Wenn Bush zwei Oberste Richter ins Amt setzt, kann er die USA zum Polizeistaat machen“, fürchtet Glenn O'Brien. In Fragen fundamentaler Bürgerrechte wurde die christlich-fundamentalistische Position vor dem Obersten Bundesgericht in den vergangenen Jahren nicht selten mit einer knappen Mehrheit von fünf zu vier abgewiesen: ob es um Abtreibung ging, das Recht des Einzelnen, sich gegen die Regierung seines Bundesstaates vor einem Bundesgericht zu wehren, oder um die Förderung religiöser Einrichtungen durch den Staat. Würden diese Mehrheitsverhältnisse umgekehrt, befürchtet Gary Indiana, „wird kein Schaden über drei oder vier Jahre angerichtet, sondern über 30 oder 40 Jahre. Was das Oberste Gericht in dieser Zeit anstellen kann, will man sich nicht ausmalen.“

Allerdings ist die Hoffnung, dass sich durch die Wahl von Kerry etwas Grundsätzliches ändert, gedämpft: „Ich glaube nicht, dass durch die Wahl von Kerry dieser so genannte Krieg gegen den Terrorismus jenen winzigen marginalen Stellenwert erhält, den er verdient“, befürchtet Gary Indiana. Die Mentalität, die hinter der Invasion im Irak steht, stimmt Cornel West zu, sei auch durch einen Wahlsieg der Demokraten nicht aus amerikanischen Köpfen verbannt.

Die Tatsache, dass Bush Präsident ist, dass die religiöse Rechte sich mit der politischen und wirtschaftlichen Macht des Landes verbündet hat, um einen fundamentalistischen Kulturkrieg zu führen, und nicht zuletzt, dass sich Bush trotz alledem noch immer einer breiten Zustimmung im Land erfreut, hat die amerikanische Intelligenz in einen tiefen Kulturpessimismus gestürzt, der weit über diese Wahl hinausgeht: „Ich verstehe nicht, dass jemand, der alles, was uns als Amerikanern einmal wichtig war, zerstört und der uns in einen idiotischen Krieg gestürzt hat, überhaupt als Kandidat für das Amt in Betracht kommt“, meint Gary Indiana.

Alarmierender und deprimierender als die mögliche Wiederwahl von George Bush sind für die amerikanische Intelligenz die kulturellen Prozesse, die das Phänomen Bush möglich gemacht haben. Amerika sei schon immer eine unsokratische, antiintellektuelle Kultur gewesen, sagt West, und habe sich vor jedweder selbstreflexiver Aktivität gescheut, die aufrüttelt und verstört. Es gebe kein Klima klarer politischer und sozialer Analyse, dafür jedoch eine Kultur der Verleugnung. Und die beute Bush schamlos aus: Bush kann ungestraft die bitteren wirtschaftlichen und sozialen Realitäten des Landes sowie die Realität seiner Außenpolitik verleugnen: „Wo ist der Diskurs? Wo ist die Empörung?“, fragt West. „Sind wir eine Nation von Schlafwandlern geworden?“

Niemand, klagt West, spreche mehr direkt und unverblümt die Wahrheit aus. Gary Indiana verortet den Beginn jener Degeneration des öffentlichen Sprechens bereits in den Siebzigerjahren: „Bei den Anhörung zu Watergate fingen Politiker mit dieser Wiesel-Sprache an. Damals hat man noch gemerkt, dass sie lügen, es gab dafür noch eine Sensibilität. Heute merkt es keiner mehr. Sprache ist gleichgültig geworden. Der öffentliche Diskurs wird in Orwell’scher Sprache geführt – man kann sagen, dass Krieg Frieden ist, ohne dass sich jemand daran stört.“ Daran hindern auch die Medien die Politik nicht mehr: „Die Massenmedien sind Propagandamaschinen“, klagt Glenn O'Brien, „die Deregulierung hat sie in die Hände weniger Monopolisten gespielt und sie sind hochgradig manipuliert.“

Die Regierung Bush als Symptom ihrer Kultur hat die amerikanischen Intellektuellen in eine tiefe Depression gestürzt. Die Wahl John Kerrys wäre ein Antidepressivum, ein Aufheller, an den Ursachen würde sie nicht rütteln. Von einer nationalen Psychoanalyse sind die USA indes noch weit entfernt – sie befinden sich weiterhin tief im Zustand der Verdrängung und Verleugnung. Der Weg zur Heilung würde durch die Depression führen, wie Cornel West deutlich macht: „Am 11. September 2001 hat ganz Amerika erlebt, was es heißt, ein Nigger zu sein“ sagt er – „schutzlos zu sein, willkürlicher Gewalt ausgeliefert.“ Rache sei eine Möglichkeit der Reaktion darauf, so Cornel West. Der Blues hingegen, die klassische schwarze Antwort, sei die andere, humanere, diejenige, die laut West „auf wahre Gerechtigkeit abzielt“.

Doch den Blues haben in den USA bislang nur die Künstler und Intellektuellen. Die Politik ist noch weit davon entfernt.