„Vom Kontinent durchweicht“

Walter Salles war auf den Spuren des jungen Ernesto Che Guevara unterwegs und hat dabei „Die Reise des jungen Che“ gedreht. Ein Gespräch mit dem brasilianischen Regisseur über Identitätsfindung, politisches Kino, über Inkas und Phönizier

INTERVIEW UTE HERMANNS

taz: Herr Salles, „Die Reise des jungen Che“ begleitet zwei junge Argentinier aus bürgerlichen Verhältnissen, die auf ihrer Reise durch Lateinamerika anfangen, politisch zu denken. Warum so bescheiden?

Walter Salles: Ernesto Guevara und Alberto Granado brechen 1952 aus behüteten Verhältnissen auf und erleben eine soziale und politische Realität, die sie vor Antritt dieser Reise nicht verstehen konnten. Wir wollten die beiden Jugendlichen in diesem Moment erfassen und nicht als die Ikonen zeigen, in die sie sich ein Jahrzehnt später verwandeln sollten. Entscheidend dafür war das erste Treffen mit Camilo Guevara, dem Sohn von Ernesto. Er sagte gleich: „Notas de viaje“, Guevaras Tagebuch, erzählt die Geschichte des jungen Ernesto im Übergang zu Che, also zu einem Zeitpunkt, als seine Identität noch nicht definiert war.

Ihre früheren Filme, „Fremdes Land“, „Central Station“ und „Hinter der Sonne“, handeln auch von Reisen, die zur Identitätsfindung führen.

Bei „Central Station“ war die Suche nach dem Vater zugleich die Suche nach dem unbekannten Land. In „Die Reise des jungen Che“ verschmilzt die innere Suche der beiden Jugendlichen nach sich selbst mit der größeren Suche nach einer Identität als Lateinamerikaner.

Die Gemeinschaft des Mercosul, also die Wirtschaftsgemeinschaft, der Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay und als assoziierte Länder Chile, Peru und Bolivien angehören, ist jung. Ihr Film entstand in Kooperation mit Produktionsteams aus den jeweiligen Ländern, die bereist wurden. Soll er dazu beitragen, so etwas wie eine kulturelle Gemeinschaft des Südens herzustellen?

Nein, denn wir hatten 1999 mit den Recherchen angefangen, bevor der Mercosul gegründet wurde. Dieser Film konnte, wenn er sich an Guevaras Bücher halten wollte, nur mit Schauspielern, Amateuren und Technikern aus mehreren Ländern entstehen. Deshalb drehten wir mit Argentiniern, Chilenen, Peruanern, einigen Mexikanern und Brasilianern.

Glauber Rocha, der brasilianische Regisseur und Vordenker des politischen Films, hat ja immer die Einheit der lateinamerikanischen Kinematografie gewollt und als Erster die panamerikanische Dimension zum Beispiel von Leopoldo Torre Nilssons Film „Martín Fierro“ (1968) erkannt – „Martín Fierro“, ein Versepos, ist ein Stück argentinischer Nationalliteratur. Rocha lobte ihn als großen populären, politischen, sozialen Film. Knüpfen Sie an Torre Nilssons Arbeit an?

Während unserer viermonatigen Vorbereitungszeit zu „Die Reise des jungen Che“ haben wir uns mit der Geschichte Argentiniens, mit der Musik und den Filmen der 50er-Jahre befasst. Wir sahen auch die Filme von Torre Nilsson. Unser Film sollte den Kontinent umarmen, er sollte sein wie ein Spaziergang im Nieselregen. Am Ende sollte man völlig von diesem Kontinent durchweicht sein. Als wir auf unserer ersten Reise die Drehorte auswählten, sahen wir, dass es in den letzten 50 Jahren in Lateinamerika kaum strukturelle Veränderungen gegeben hat.

Die zweite Adaptation von „Martín Fierro“ stammt von dem argentinischen Regisseur Fernando Solanas („Fierros Söhne“, 1974). Solanas hat auch „Die Stunde der Hochöfen“ gefilmt, einen politischen Dokumentarfilm, der mit einer vierminütigen Einstellung des toten Che Guevara endet. Solanas wollte ein politisches, zeitgemäßes Kino. Der Ernesto in Ihrem Film hingegen verkörpert eher Mitgefühl. Er lernt auf individueller Ebene, wie etwa in Chile, als er seine Asthmamedikamente an eine sterbende alte Kellnerin verschenkt, obwohl er weiß, dass er die Medizin brauchen wird. Wie ist das gemeint?

Jeder Film ist politisch, doch wollten wir kein politisches Kino wie in den 60er- oder 70er-Jahren machen. Das richtete sich damals zu Recht gegen die Diktaturen, die Lateinamerika geprägt haben. Unser Film wurde zu einer anderen Zeit gedreht; er fokussiert das Erwachen eines revolutionären Herzens.

Warum kommt die Reise, die Guevara 1953 und 1954 durch Lateinamerika unternahm, nicht vor?

Wir wollten darlegen, was war, bevor Ernestos politisches Erwachen durch die zweite Lateinamerikareise erweitert werden konnte. Zum Beispiel erlebte er in Guatemala hautnah den Sturz der Regierung Jacobo Arbenz, ein Sturz, der von der United Food und der CIA eingefädelt worden war. „Die Reise des jungen Che“ versucht dem Leben der historischen Personen treu zu sein, und das scheint mir Grund genug, den späteren Weg nicht vorwegzunehmen. Ich habe die Jugendlichen so gesehen, wie sie in diesem Augenblick waren. Hätte ich mich mit der zweiten Reise durch Lateinamerika beschäftigt, dann hätte der revolutionäre Kampf eine große Rolle spielen müssen.

Können Sie das Verhältnis zwischen der Landschaft und den Darstellern beschreiben?

Als Ernesto und Alberto sahen, was die Inkas zustande gebracht haben, verstanden sie – wie wir auch –, wo unser Ursprung liegt. Alberto Granado erzählte uns, dass er bei Antritt der Reise wesentlich mehr über Griechen und Phönizier wusste als über Inkas oder Azteken. Je weiter die beiden in das Herz des Kontinents vorstießen, desto mehr staunten sie über die Vielfalt Lateinamerikas. Ihr Blick auf den Kontinent änderte sich. Die Kamera legt dabei nichts vorher fest, sondern begleitet sie.

Filme als Auftragsarbeit zu drehen, ist das das Richtige?

Ich sehe diesen Film nicht als Auftragsarbeit an. Wie alle anderen war ich in Guevaras Aufzeichnungen verliebt. Was war das Besondere an diesen beiden Jugendlichen im Jahr 1952? Sie waren wie ein Spiegel, der nicht Europa oder die USA, sondern zum ersten Mal Lateinamerika reflektierte.

Wie haben Sie sich durch die Reise verändert?

Heute sehe ich klar, wo meine Wurzeln liegen. Ich fing als brasilianischer Regisseur an und beende den Film als lateinamerikanischer Regisseur. Ich wünsche mir, bald mehr lateinamerikanische und nicht nur brasilianische Geschichten zu erzählen.