Dieser Country ist unser Country

John Rich und Kenny Alphin alias Big & Rich sind die gegenwärtig erfolgreichsten Countrystars der USA. Gemeinsam mit ihrem Schützling Gretchen Wilson brechen sie dabei jede Regel, die dieser Musik bisher lieb und teuer war. In Nashville passiert Erstaunliches: Country öffnet sich zur Welt

VON THOMAS WINKLER

Immer dienstags wird das Land der Freien, die Heimstatt der Tapferen in Aufruhr versetzt. Nein, nicht von demonstrierenden New Yorkern oder lautstark gegen Bush agitierenden Punkrockern, sondern von Schnauzbärten mit Stetson auf dem Kopf und Kellnerinnen in zu engen Jeans. Auf einer kleinen Bühne in einer Kneipe namens Pub of Love, ausgerechnet im Hort des Konservatismus, in Nashville, Tennessee, wird die Revolution geprobt, die Umwälzung aller Werte geplant und das Ende des Abendlandes eingeläutet. Denn ausgerechnet der Countrymusik wird Weltoffenheit beigebracht.

Seit 1998 trifft sich einmal wöchentlich die MuzikMafia, ein loser Zusammenschluss so grundverschiedener Charaktere wie Kid Rock, dessen stilisiertes Rednecktum beständig die Beschränktheit des ruralen Amerika feiert, und Cowboy Troy, ein 1,96 Meter großer, schwergewichtiger Afroamerikaner mit einem College-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, der in drei Sprachen mit breitem texanischem Akzent rappt. Stars wie Hank Williams Jr. und Martina McBride, eine der aktuell erfolgreichsten Sängerinnen des modernen Country, stehen ebenso auf der MuzikMafia-Bühne wie obdachlose Drogenabhängige. Zum Einsatz kommen Steel Guitar und Saxophon, Fiedeln, Human Beatboxes und Congas.

Initiatoren und Impresarios der MuzikMafia sind John Rich, Sohn eines texanischen Baptistenpredigers und ehemaliger Bassist der recht erfolgreichen Lonestar, und Kenny Alphin, der sich selbst Big Kenny nennt und auf einer Rinderfarm aufgewachsen ist. Beide verbindet eine frustrierende Vergangenheit in der konservativen Countryindustrie Nashvilles. Aus diesen Erfahrungen heraus organisierten sie die wöchentlichen Zusammenkünfte, die längst vom Geheimtipp zum Ereignis geworden sind. Als Big & Rich sind sie zudem einer der erfolgreichsten Country-Acts dieser Tage. Für ihr Debüt-Album „Horse of a Different Color“ haben sie gerade zum zweiten Mal Platin bekommen. Zur Einleitung verspricht eine Stimme „Country music without prejudice“ und schon im ersten Song „Rollin‘ (The Ballad of Big & Rich)“ wird das erste Tabu gebrochen, wenn Cowboy Troy eine Strophe rappt und die beiden Antipoden HipHop und Country & Western verschmelzen. Das fröhliche Missachten jeder Regel des Countrygewerbes geht weiter, wenn ein Song wie „Save a Horse (Ride a Cowboy)“ nicht jugendfreien Humor mit Hard-Rock-Gitarren und Fiedel kombiniert.

„Wir mögen uns nicht an die in Nashville üblichen Definitionen halten, was Countrymusik ist“, erklärt John Rich, der seinen schwarzen Cowboyhut auch während des Interviews nicht abzusetzen pflegt, „aber wir behaupten, es ist Countrymusik: Also ist es auch Countrymusik.“ Big & Rich muten der als konservativ verschrienen Countryklientel einiges zu. Und die liebt es. Offensichtlich hat die Industrie ihre Kunden unterschätzt, denen der süße Countrypop der letzten Jahre auf den Magen geschlagen zu sein scheint. „Es weht ein frischer Wind durch Nashville“, sagt Rich. Dieser Wind weht allerdings erst seit neuestem. Big & Rich wurden jahrelang von fast jeder Plattenfirma in Nashville abgelehnt. „Timing ist alles“, hat Rich gelernt, „denn wenn wir dieses Album vor drei oder auch noch vor zwei Jahren heraus gebracht hätten, wäre es wahrscheinlich völlig untergegangen.“

Fast noch erfolgreicher als Big & Rich ist ihr Schützling Gretchen Wilson, ebenfalls Dauergast bei den MuzikMafia-Abenden. Bevor John Rich sie entdeckte und begann mit ihr Songs zu schreiben, bevor sie mit ihrer ersten Single „Redneck Woman“ und dem zugehörigen Album „Here For The Party“ die Countrycharts stürmte, war sie bereits achtmal von Plattenfirmen abgelehnt worden. Bereits mit 15 Jahren arbeitete sie als Kellnerin in einer Kneipe, in der unangenehme Gäste mit einer unter der Theke bereit liegenden doppelläufigen Flinte zur Räson gebracht wurden. Aufgewachsen ist die mittlerweile 31-jährige Wilson mit ihrer allein erziehenden Mutter in einem von Trailer-Parks und Maisfeldern dominierten 720-Seelen-Kaff namens Pocahontas, gelegen an der Interstate 70 nahe St. Louis, dem sie mit einem Lied auf „Here for the Party“ ein Denkmal setzte.

Im Vergleich zu Big & Rich klingt Wilson zwar vergleichsweise konventionell, aber auch sie rappt in „Chariot“ eine Strophe und präsentiert sich vor allem als ein Frauen-Typus, der in Nashville seit den Tagen von Patsy Cline nicht mehr gefragt schien: Weder glamouröses Traumbild noch Ersatzmutter, ist sie mit ihren Songs über Beziehungskrisen und Kleinstädte, Armut und Arbeitswelt die authentische Alternative zu den in Music City, USA, vorherrschenden Rollenklischees.

Nun gab es immer Musiker, die versucht haben, Nashville von innen heraus ästhetisch und inhaltlich zu modernisieren. Kinky Friedman schrieb einige der schlauesten Countrysong des vergangenen Jahrhunderts, aber sein schwarzer, jüdischer Humor blieb ebenso marginalisiert wie die Versuche von Bands wie Jason and the Scorchers, den Punkrocker aus Hank Williams herauszulocken. Solche Ansätze wurden damals eher in der alten Welt gewürdigt als vor Ort. Stattdessen begann das Country-Establishment auf der Suche nach neuen Absatzmärkten sein Produkt zunehmend an den Standards des internationalen Popsounds zu orientieren: Diese Entwicklung begann spätestens mit Garth Brooks und erlebte ihren vorläufigen Höhepunkt mit Shania Twain. Aber „die Leute haben Originalität vermisst“, glaubt John Rich, „Nashville war eintönig, keiner hat etwas riskiert. Die Musik klang zwar noch gut, aber sie hatte keine Seele mehr. Gretchen Wilson singt über ihr Leben und wenn man sie jemals erlebt hat, dann weiß man, dass sie keine Rolle spielt.“

So gesehen steht der Erfolg der MuzikMafia auch für einen Rollback, denn so musikalisch innovativ vor allem das Album von Big & Rich auch ist, die Protagonisten selbst glauben, dass sie vornehmlich gute, alte Werte rekonstruieren. „Niemand“, sagt Rich, „ist so Country wie Gretchen Wilson.“ Countrymusik war nicht immer der ästhetisch monolithische Block, als der sich Nashville in den vergangenen Jahrzehnten präsentierte, sondern einmal in erster Linie Volksmusik in einem durchaus auch gewerkschaftlichen Sinne, die Musik des kleinen Mannes, proletarisch und sogar multikulturell. Der letzte schwarze Musiker allerdings, der eine Top-Ten-Single in den Countrycharts hatte, war Charley Pride, und das war im Jahr 1987.

Dass es Zeit wird, an diese Traditionen anzuknüpfen, stellte Big Kenny spätestens fest, als ihm eines Tages der kleine Bruder seines Partners über den Weg lief, eine Baseball-Mütze des Traktorenherstellers John Deere auf dem Kopf und ein Eminem-T-Shirt auf dem Oberkörper. „Niemand mehr heutzutage hört nur Rockmusik, niemand hört nur Rap oder Country“, erklärt Rich, „jeder hört jede Musik. Unser Album ist das erste, das diese Mentalität reflektiert. Wir hören von vielen Menschen, die zu unseren Konzerten oder Autogrammstunden kommen: Ich mag eigentlich keine Countrymusik, aber ich liebe Big & Rich.“

Solcher Crossover wird vom Käufer gewürdigt. Country war im ersten Halbjahr das kommerziell erfolgreichste Genre in den USA, der Umsatz stieg um 14,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit ist Country das mit Abstand am stärksten wachsende Segment in einem sich ansonsten nur langsam erholenden Tonträgermarkt. Dazu trugen nicht nur Gretchen Wilson und Big & Rich bei, sondern eine im trägen Nashville nie zuvor gesehene Phalanx an erfolgreichen Newcomern wie Josh Gracin, Julie Roberts, Billy Currington oder Rachel Proctor. Selbst altgediente Veteranen setzen so viel um wie nie zuvor: Die Singer/Songwriter-Institution Jimmy Buffett ist mit „License to Chill“ erstmals in seiner nun bereits mehr als drei Jahrzehnte währenden Karriere auf Platz eins der amerikanischen Album-Charts gelandet.

„Ja“, sagt John Rich, „es ist eine Art Revolution, auch wenn wir sie nicht geplant haben.“ Natürlich erklärt sich der aktuelle Erfolg von Countrymusik auch durch die momentane politische und wirtschaftliche Situation: In Zeiten wie diesen, in denen täglich Amerikaner im Irak sterben, unter Bush eine Million Jobs verloren gegangen und das Außenhandelsdefizit in schwindelerregende Höhen gestiegen ist, sehnt sich Amerika nach Sicherheit und Geborgenheit. „Country ist die Essenz Amerikas“, meint Rich, „Countrymusik hat es immer gegeben und Countrymusik wird es immer geben.“ So gesehen ist die Revolution, die jeden Dienstag im Pub of Love geprobt wird, zwar auch eine konservative Revolte, eine Rückkehr zu tradierten Werten. Auf diese Werte beruft sich allerdings nicht nur George Bush jr., sondern auch Michael Moore. Und die MuzikMafia steuert zu dieser Auseinandersetzung den aufregendsten Country seit dem frühzeitigen Ableben von Hank Williams bei.

Big & Rich: „Horse of a Different Color“ (WEA); Gretchen Wilson: „Here For the Party“ (Epic/Sony); Jimmy Buffett: „License to Chill“ (Mailboat Records/Neo Distribution/Sony)