Die Achse des Techno – von Alexis Waltz
Aus der Ekstase geschöpft

Keiner einzelnen Person verdankt die Szene der elektronischen Tanzmusik in der letzten Zeit so viel wie Ricardo Villalobos. Kein anderer DJ steht so bedingungslos zum Feiern, zur Musik, zu den Exzessen. Das Spektrum der bespielten Dancefloors und die damit verbundene musikalische Bandbreite seiner Sets ist extrem. Kein anderer Produzent schöpft tiefer aus den Ekstasen der Clubmusik, nirgendwo ist die Wechselwirkung von Floor und Produktion so unmittelbar.

Sein zweites Album „Thé Au Harem D’Archimède“ ist das Gewagteste, Unnachgiebigste, Verstörendste, was in der elektronischen Tanzmusik zurzeit möglich ist. Es ist Musik, die die Welt noch nicht gehört hat, die einen vom ersten bis zum letzten Moment in einen anderen Zustand versetzt. Nüchternheit ist unbekannt, stattdessen entsteht ein überwältigendes Driften. Alle Fixpunkte sind aufgehoben, eine Gesamtbewegung wird produziert: ein Drängen in den Raum, in die Zeit.

Sind diese Tracks Free Jazz oder Krautrock? Der Soundstrom erreicht zahllose unfassbare Momente: Mal bewegt sich die Bassdrum an den technischen Grenzen der Lautsprecher, erklingt als ein Rumoren in den Membranen, mal klimpern Gitarren, mal bleibt nur ein drängender Bass und eine kreisende, marschierende Kickdrum erhalten. Diese Musik beharrt mit Emphase auf dem, was die elektronische Tanzmusik der Neunziger möglich gemacht hat, zugleich atmet sie die Darkness der Gegenwart.

Ricardo Villalobos: „Thé Au Harem D’Archimède“ (Perlon/Neuton)

Funkelnde Eleganz

Booka Shade sind Mitbetreiber des zur Zeit erfolgreichsten deutschen House-Labels Get Physical und bei den meisten Releases als produktionstechnische Masterminds tätig gewesen. Wo die Veröffentlichungen des Labels sonst sehr direkt und funktional auf die Erzeugung bestimmter Momente auf dem Dancefloor angelegt waren, ist „Memento“ eine House-Oper: Es ist, was sehr selten gelingt, dramaturgisch so aufwändig und fein ausgearbeitet, dass es wie ein Pop-Konzept-Album funktioniert – ohne dass diese Ebene offensichtlich ausgespielt wird.

Der Basis-Sound ist dunkel und hitzig; gleichzeitig sind die Stücke emotional hoch verdichtet, haben die Räumlichkeit und Spannung von Filmmusik. Die immer wieder überraschenden Wendungen des Albums sind aus dieser Dimension heraus konstruiert. Zugleich ist „Memento“ immer Dance-Music. So deutlich Bezugspunkte im aktuellen minimal-discoiden Dancefloor-Sound gesetzt werden, so wenig entscheiden sich Booka Shade für ein bestimmtes Groove-Modell – sie konstruieren eine sehr offene Beat-Basis zwischen Disco und House. Das Produzenten-Wissen von Booka Shade ist genauso unüberschaubar wie zielgerichtet: „On & On“ vermischt Nico-Vocals und Kirchenlieder, konstruiert timberlandisch den Drive aus den Figuren der Sounds, „Frantic“ ist eine Gabba-Nummer, ein kaum hörbarer Bleep im Track „Memento“ zeigt einen Abgrund in der funkelnden Eleganz auf.

Booka Shade: „Memento“ (Get Physical/Intergroove)

Konzentrierte Verlangsamung

Viele Energien in der elektronischen Tanzmusik richten sich gerade auf die Suche nach dem nächsten Integrations-Hit, der wirklich alle Eckensteher auf die Tanzfläche treibt. Das hat schon so manchem DJ die Sicherheit und das Vertrauen in die Musik geraubt. Den mächtigsten Gegenentwurf produziert der Londoner DJ Benno Blanko – vorausgesetzt, man kann sich auf eine gewisse Verlangsamung einlassen. Die Stücke auf „8 Ft. In The Air“ sind verlangsamter House, sie haben die Schwere von HipHop, die Tiefe von Reggae. Die gewaltigen Bässe erschlagen nicht, sie absorbieren. Es ist eine durch und durch im Groove zentrierte Musik – die sparsam eingesetzten Sounds sind mal banal, mal obskur. Die Stücke erinnern an die mitreißenden Technogebete Baby Fords, an Lee Perrys magischen Bass, auch an die Entrücktheit Stevie Wonders.

Hier werden keine Pop-Momente in die Dance Music eingetragen, vielmehr erscheint die Konzentriertheit der Tanzmusik als Lebenshaltung. Man kifft sich nicht in eine Innerlichkeit, sondern hin zum präzisen Bewusstsein der eigenen Körperlichkeit. Um gemütlich zu sein ist diese Musik zu brutal, doch anders als der meiste House bemüht sich dieses Album nicht um ein direktes Bild der Schönheit – vielmehr weist es den HörerInnen beinahe buddhistisch einen Weg in die Erfahrung des Sounds. „8 Ft. In The Air“ lehrt, dass eine extreme Aufmerksamkeit und Konzentration Bedingung des lässigsten Chill-out ist.

Benno Blanko „8 Ft. In The Air“ (Playhouse/Neuton)