Die Tektonik der Herzen

Ein Deutschland-Roman von Format. Und ein Buch über die Zweifel an den besten menschlichen Substanzen, den Gefühlen: Dirk Kurbjuweits neuer Roman „Nachbeben“

VON PETER HENNING

Zwei Romanen des 1962 in Wiesbaden geborenen Dirk Kurbjuweit gelang bereits der Sprung auf die Kinoleinwand: Jobst Oetzmann adaptierte 2001 Kurbjuweits Debütroman „Die Einsamkeit der Krokodile“, und zwei Jahre später verfilmte Dito Tsintsadze den Thriller „Schussangst“. Zum großen Durchbruch als Schriftsteller verhalf ihm dieser Umstand allerdings nicht. Vielleicht ändert sich das mit Kurbjuweits neuem Roman „Nachbeben“, denn dieser ist vor allem eins: ein Deutschlandroman von Format, der auf gerade mal zweihundert Seiten deutsche Währungs- und Wissenschaftsgeschichte ebenso kurzweilig abzuhandeln weiß wie die darin eingebettet verlaufenden Regungen seiner fünf Hauptakteure.

Ein Roman, der aufs Ganze geht, indem er die Zeitstimmungen und Milieus nicht bloß der Atmosphäre halber ausschlachtet, sondern diese als unverzichtbare Koordinaten kenntlich macht. Sosehr dieses Buch von der psychologischen Feinzeichnung seiner Figuren lebt, so spürbar atmet es auch die Zeit und den Geist, denen es entspringt.

Kurbjuweit entführt uns in das Deutschland der Nachwendezeit und auf den 826 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen, alle Tage vernebelten Kleinen Feldberg im hessischen Taunus, genauer: auf die Reinach’sche Erdbebenwarte, auf der eine Hand voll Personen mit sich, den anderen und dem großen Ganzen ringt. Es sind von den Beben und bald mächtigen Erschütterungen ihrer Herzen geschüttelte Kippfiguren. Allen voran der 82-jährige Luis, der Erzähler und eigentliche Chronist der Ereignisse, der Tag für Tag am Seismografen sitzt und die größeren und kleineren Regungen im Erdinnern protokolliert. Ein auf den ersten Blick kantiger Charakterkopf, charismatisch und dabei doch stets auf Harmonie bedacht, der neben seiner Liebe für das geheime Treiben der Erde noch eine zweite hegt: die zu dem zunächst gelehrigen Lorenz, dem Sohn des Verwalterehepaars Konrad und Charlotte, einem hoffnungsvollen jungen Mann, der Karriere bei der Bundesbank zu machen beginnt.

Akribisch führt Luis Buch über Erdstöße im Irak, in Indien oder der Türkei, und häufig schaut ihm Lorenz dabei über die Schulter. Bis eines Nachts nach einem Beben eine junge Frau in der Station anruft, Lorenz um Hilfe bittet – und der junge Mann sich spontan in ihre Stimme verliebt.

An dieser Stelle beginnt Kurbjuweits gelassen anrollender Stoff Fahrt aufzunehmen. Als Lorenz kurz entschlossen der Telefonstimme seiner zukünftigen Frau Selma entgegen nach Köln rast, bricht die bisher luftdichte Kapsel Feldberg auf – und die Außenwelt mit all ihren Störgeräuschen und zweifelhaften Lockungen hält Einzug in den Köpfen ihrer Bewohner. Lorenz und Selma bekommen ein Kind, kaufen sich ein Haus in Kronberg – und ziehen weg; Konrad verliert sich mehr und mehr in seiner Waffenleidenschaft, während Luis sich mit Blick auf Charlotte, mit der er einst eine einzige und, wie sich zeigen wird, folgenschwere Liebesnacht verbrachte, mehr und mehr isoliert. Allein Lorenz, der sein Fortkommen in der Bank zunächst mit Geschick vorantreibt, scheint die Rolltreppe ins Oberhaus des Lebens erwischt zu haben. Bis er sich während eines beruflichen Albanienaufenthalts in die junge Wirtschaftswissenschaftlerin Laura verliebt und auf einem Ausflug mit dem Wagen aufs Land einen Jungen überfährt.

Vor allem hier, in der Schilderung der unglückseligen albanischen Ereignisse, offenbart Dirk Kurbjuweit sein Können. „Lorenz trat sofort auf die Bremse. Das Auto schlingerte leicht. Er hörte den Aufprall und sah den Jungen durch die Luft fliegen. Als der Passat stand, hielt er für einen Augenblick inne. Er erinnerte sich später, dass er gedacht hat: Lass es nicht wahr sein, lass es bitte nicht wahr sein. Er erinnerte sich auch, dass es still war. Nur der Passat dieselte leise vor sich hin.“ Eilig steckt Lorenz dem Vater des toten Jungen siebenhundert Mark zu und fliegt zurück nach Frankfurt.

Doch der Rückweg in sein altes Leben ist verstellt. Als Selma nach seiner Rückkehr von Lauras Existenz erfährt, leben sie fortan in einem kriminellen Zwischenzustand, in dem sie weder zusammenbleiben noch auseinander gehen können. Die Unsicherheit ihrer Erfahrungen und Gefühle treibt sie in eine Art privaten Untergang, vor dem jeder von ihnen sich auf seine Weise zu retten versucht. Während Selma zurück in ihren Beruf flieht und in die Sorge um den gemeinsamen Sohn Horand, versteigt Lorenz sich in die fixe Idee, die Einführung des Euro verhindern zu müssen – und bleibt im Zuge seines Windmühlenkampfs auf der Strecke. Zu allem Unglück erschießt obendrein Konrad zunächst Charlotte und anschließend sich selbst.

Am Ende schließt sich auf dem Kleinen Feldberg, wo alles begann, für alle der Kreis: für Luis, dem Charlotte kurz vor ihrem Tod gestanden hat, der Vater von Lorenz zu sein. Für Selma, für die der Weg zurück auf den Feldberg frei ist, nachdem sie sich mit Lorenz ausgesöhnt hat. Und für Lorenz selbst, der scheinbar alles verloren hat – und nun fähig zu einem neuen, wahrhaftigeren Anfang ist.

So ist Dirk Kurbjuweit mit „Nachbeben“ ein all unsere Widersprüche in eine einzige geschlossene Erzählbewegung einholender Deutschlandroman geglückt; ein Buch über Vereisung und den Zweifel an den besten menschlichen Substanzen: den Gefühlen.

Dirk Kurbjuweit: „Nachbeben“. Nagel & Kimche, Zürich 2004, 224 Seiten, 17,90 Euro