Die Probleme des Analytikers

Der marxistische Theoretiker Fredric Jameson untersucht, wie die Moderne aus der Mode kam – und warum der Modernisierungsdiskurs sich doch durchsetzte

VON ROBERT MISIK

Ein gewisse Larmoyanz konnte Oskar Lafontaine nicht verbergen, als er 1999 den Bettel hinwarf. „Überhaupt ist das Wort ‚Modernisierung‘ oder ‚Moderne‘ zu einem Modebegriff verkommen, unter dem sich jeder alles vorstellen kann“, klagte der Ex-SPD-Chef. „Der Begriff der ‚Moderne‘ wird auf ökonomische Kategorien verkürzt. Die Angelsachsen haben keinen Kündigungsschutz, also sind wir modern und bauen den Kündigungsschutz ab.“ Fürs Kapital sein ist modern, für die kleinen Leute sein ist unmodern, so die knappe und gewiss zutreffende Analyse.

Es ist nicht zuletzt diese Offenheit des Begriffs der Moderne für Interpretationen dieser Art, die Fredric Jameson in seinem neuesten Buch, „Mythen der Moderne“, interessiert. Da stehen die Wörter Kopf, wird ein Begriff, der einst die radikale Öffnung der Welt markierte, zum Code für die Alternativlosigkeit des Kapitalismus – eine der Ironien des Themas Modernität.

Fredric Jameson ist ein fast schon legendärer marxistischer amerikanischer Theoretiker, ein luzider Denker, für den der Marxismus gewissermaßen als Modell der integralen Interdisziplinarität seine Bedeutung behauptet – als Theoriemodus, der Aussagen über Ökonomie, Alltagskultur, Kunst und die Philosophie selbst zulässt.

Seit dem Erscheinen von „Marxism and Form“ vor über dreißig Jahren hat Jameson seinen fixen Platz im Orbit zeitgenössischer Theoriebildung, in der Foucault-Deleuze-Derrida-Žižek-Laclau-Galaxie. Die Aporien von Kapitalismus und Moderne sind das Thema, um das er kreist, so auch 1991 in seinem Buch „Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism“.

Nun also „Mythen der Moderne“, der Versuch der „Ideologieanalyse“ eines Wortes. Ein Unternehmen, das durch die Verbindung der Worte „Moderne“, „Modernisierung“ und „Modernismus“ verkompliziert wird. Zudem ist es durch den Umstand geprägt, dass es das Mondernitätsproblem unmittelbar mit dem „weltweiten Kapitalismus“ verbindet. Hier öffnet sich ein weites Feld für Ambivalenzen und begriffliche Salti.

So ist für Jameson die klassische Moderne der Ausdruck einer noch unvollständigen kapitalistischen Modernisierung. Die Hochmoderne des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts gedieh in einem Umfeld, das noch von vielen feudalen Resten geprägt war. Die klassische Modernität war darum immer auch eine Hoffnung auf etwas, was erst zu realisieren sei. Mit dieser Beobachtung gelingt Jameson eine originelle Deutung des berühmten Habermas’schen Diktums von der „Moderne als unvollendetem Projekt“: Sie ist aus Jamesons Perspektive ein notwendig unvollendetes Unterfangen.

Als die Modernisierung sich vollständig durchgesetzt hat, schlägt das Zeitalter der Postmoderne, die für Jameson nicht jenseits der Moderne ist, sondern deren Krönung. Hierin liegt ein Teil des ironischen Gehalts des Modernitätsdiskurses begründet. Wer im Zeitalter des Postmodernismus an den Vorstellungsreihen oder Organisationsweisen der klassischen Moderne festzuhalten versucht, der ist – was wohl? – unmodern; Lafontaine etwa. Das Moderne von heute ist die Antiquität von morgen. Das Signum des Modernen ist der Slogan „Neu“, also der Bruch mit dem Alten, und das von Beginn an.

Zur Moderne wird die Modernisierung über die Geschichten, die sie von sich selbst erzählt, durch die Beginnergeschichten und das große Beginnergefühl. „ ‚Modernität‘ bedeutet immer, ein Datum zu setzen und einen Anfang zu postulieren.“ Das verkompliziert sich jedoch durch die Vielzahl der Geschichten und die Vielzahl der möglichen, rivalisierenden Anfangsmomente. Schlägt die Geburtsstunde der Moderne mit Descartes „Cogito“ oder mit Galilei oder gar schon mit den Römern? Sollen wir uns eher an die Brüche halten, die mit großem Trara daherkommen, oder an die lautlose, seltsam anlasslose Geburt des Neuen in Gestalt dessen, was Foucault die Episteme nennt, die schleichenden Revolutionierungen von Wissensformen?

Mit der Moderne einher geht der Modernismus, der keineswegs einen Prozess beschreibt, sondern eine Anrufung ist, ein heroisches Postulat, wie das Rimbauds, das Jamesons Schlusswort den Titel gab: „Il faut être absolument moderne!“ (Man muss absolut modern sein.)

Jenes Postulat war längst schon aus der Mode gekommen und kehrt nun zurück. Lafontaines Scheitern zeigt es. „Diese Wiederkehr der Sprache der älteren Moderne muss, so beginnt man zu argwöhnen, irgendwie eine postmoderne Sache sein“, konstatiert Jameson, der auch ein großer Stilist ist, mit leiser Ironie. Dieser Spätmodernismus ist für ihn ein Erbe des Kalten Krieges und ein amerikanisches Phänomen, Vehikel des nordamerikanischen Kulturimperialismus im Moment der Vereinheitlichung, der Globalisierung des Kapitalismus: eine „optische Illusion“, die von „Minderwertigkeitsgefühlen und Nachahmungszwang lebt“.

Dies ist der Punkt, an dem der Autor den Leser auf interessanten Wegen durch die Verpuppungen, Krisen und Modernisierungen der Moderne, von Charles Baudelaire bis Vladimir Nabokov, führt – und ihn etwas hilflos zurücklässt. Was den Ideologieanalytiker wohltuend vom Ideologiekritiker unterscheidet, ist die Tatsache, dass er nicht glaubt, mit seinem Unternehmen das Feld, auf dem er sich bewegt, schon zu verändern.

Gegen den Begriff der „Modernität“ anzuargumentieren hätte etwas von der Lächerlichkeit eines „Besessenen“, wie Jameson selbst weiß. Gewiss aber bleibt bei solcher Art der Ideologieanalytik auch immer ein Defizit. Und so weiß man nach der Lektüre von Jamesons neuem Buch zweifelsohne besser Bescheid über die Mythen der Moderne – und fragt sich, ob es einen großen Unterschied machte, würde man nicht darüber Bescheid wissen.

Die Moderne ist eine Situation; die Modernisierung ein Prozess; der Modernismus eine Reaktion darauf. Die Schwierigkeiten des Modernitätsthemas haben mit der ungleichzeitigen, asynchronen Entwicklung dieser drei Topoi zu tun. Zu ihnen trägt zudem der technologische Determinismus bei, der uns allen in den Knochen steckt, mehr, als wir das glauben mögen: Technologie wird wahrgenommen als Allegorie sozialer Beziehungen. Gerade heute erweist sich das etwa in der allgegenwärtigen Netz-Metapher. Und gewiss sind wir alle weit moderner, als wir glauben – was womöglich nur ein anderer Ausdruck für unsere Rückständigkeit ist.

Fredric Jameson: „Mythen der Moderne“. Aus dem Englischen von Hans-Hagen Hildebrandt. Kadmos Verlag, Berlin 2004, 239 Seiten, 22,50 Euro