Der Krieg macht Väter hilflos

Der japanische Comiczeichner Keiji Nakazawa hat in den frühen Siebzigerjahren seine Kindheitserinnerungen an den Atombombenabwurf verarbeitet. Jetzt ist der erste Band von „Barfuß durch Hiroshima“ auf Deutsch wieder aufgelegt worden

VON MARTIN ZEYN

Keiji Nakazawa war sechs Jahre alt, als die Atombombe auf seine Heimatstadt Hiroshima fiel. Sein Vater und zwei Geschwister kamen um, er selbst erkrankte später an Leukämie, seine Mutter starb an der Strahlenkrankheit. 1972/73 veröffentlichte er „Barfuß durch Hiroshima“ als Fortsetzungscomic in Shûkan Shônen Jump, einem Mangamagazin mit einer Auflage von zwei Millionen Stück, dann erschien eine vierbändige Taschenbuchausgabe.

Dieser Erfolg überrascht, denn Nakazawa erzählt schon im ersten Band alles andere als eine Opfergeschichte. Sein Zorn richtet sich nicht gegen die Amerikaner, sondern gegen die japanischen Militärs. Kriegsverbrechen an Chinesen werden gezeigt, auch die Verschleppung von tausenden Koreanern wird thematisiert. Die Militärs täuschen das Volk über die tatsächliche Lage und lassen es hungern.

An einer Episode verdeutlicht Nakazawa allerdings auch, dass viele der Kriegspropaganda willig Glauben schenkten. In einem Trainingslager für Marineflieger begeht ein Junge wegen der schikanösen Behandlung durch einen Ausbilder Selbstmord. Ein Vorgesetzter deckt den Schinder und schreibt den Eltern vom „Heldentod“ des Sohnes. Als ein Kadett den Eltern die Wahrheit erzählt, richtet sich ihre Empörung nicht gegen den Ausbilder, sondern gegen den Zeugen: Sie haben immer davon geträumt, dass ihr Sohn „im Krieg sein Leben für unser Land gibt“.

Nakazawa erzählt die Geschichte von Gen und seiner Familie in der Endphase des Krieges. Gen besucht die zweite Klasse, sein Vater ist Kunstmaler, bemalt aber, um zu überleben, Sandalen. Der Vater bekennt sich offen als Kriegsgegner und deswegen wird er – und seine ganze Familie gleich mit – als Verräter gebrandmarkt. Die Polizei verprügelt ihn, schlimmer aber ist die soziale Ächtung, die nicht vor willkürlichen Anschuldigungen zurückschreckt. Gens Schwester muss, nachdem ein Mitschüler sie denunziert hat, halbnackt vor zwei Lehrern stehen, um einen Diebstahl zu gestehen, den sie nicht begangen hat. Sein großer Bruder, dessen „Schulunterricht“ jetzt Arbeit in einer Waffenfabrik bedeutet, wird zusammengeschlagen, da die Geheimpolizei ihm – dem Sohn eines Verräters – Sabotage unterstellt.

Die Rachsucht der Umgebung kennt kein Maß. Für deutsche Augen erschreckend, es braucht keine Gestapo, um einzuschüchtern, es reichen die Mitmenschen. Geprügelt und geschlagen wird im ganzen Buch: Schwangere, Kinder, Lehrer, unterschiedslos. Gewalt bestimmt den Umgang. Selbst den eigentlich liebevollen Vater machen Hunger und Stress zu einem Berserker, der ständig auf seine Söhne einschlägt. Allerdings ist er auch die einzige Figur, die darin keine Stärke, sondern Versagen sieht. Immer wieder bricht er in Tränen aus. Und er ist in der Lage, seine Überzeugungen für den ältesten Sohn hintanzustellen. Der Siebzehnjährige hat sich freiwillig gemeldet, weil er meint, so die Ehre der Familie zu retten. Im Zorn verstößt ihn der Vater, dann aber verabschiedet er den Sohn mit dem Kriegsruf „Banzai“. Der Krieg macht Väter hilflos.

Die Komplexität der Figuren in diesem Manga ist außergewöhnlich. Keine Lichtfiguren, sondern Menschen agieren, die dem Druck der Verhältnisse immer wieder erliegen. Diese moralfreie Psychologie überzeugt vor allem bei der Anlage der Hauptfigur Gen. Sein Nachplappern des Rassismus und der Kriegspropaganda werden nie mit dem Hinweis auf sein Alter abgefedert. Umso prägnanter erscheinen die Einsichten, die das Kind gewinnt – viel zu früh. Formal ist Nakazawa zurückhaltend, dieser Manga erschließt sich auch ungeübten Lesern sofort.

Der erste Band endet mit dem Abwurf der Atombombe, dem Tod von Bruder, Vater und Schwester sowie der Schilderung der direkten Folgen der Explosion. Bis August 2005 sollen alle vier Bände von „Barfuß durch Hiroshima“ vorliegen. Nakazawa ist in Deutschland schon länger Eingeweihten bekannt, 1982 hatte Rowohlt einen Band herausgebracht, der allerdings lange vergriffen ist. Band 2, der im Februar erscheinen soll, schildert den Tag nach dem Angriff, den massenhaften qualvollen Tod der herumirrenden, verbrannten und verstrahlten Menschen. Die Bilder, die hier Nakazawa gelingen, gehören zu dem Eindrucksvollsten, was je in Comics gezeichnet wurde, und sind nur mit Art Spiegelmans „Maus“ zu vergleichen, der ein großer Bewunderer des Japaners ist.

Der Atombombenabwurf als Menetekel findet sich immer wieder in Mangas. In „Barfuß durch Hiroshima“ aber wird der ganze Schrecken ausgebreitet, minutiös, quälend, manchmal in stilisierten Bildern und zutiefst bewegend.

Keiji Nakazawa: „Barfuß durch Hiroshima“ – Teil 1: „Kinder des Krieges“. Aus dem Japanischen von Nina Olligschläger, Carlsen 2004. 302 Seiten, 12 €