Durch die Schrift hindurchgehen

Spuren und Schneisen: Der Bedeutung von Walter Benjamin für die Kunst der Gegenwart geht eine Ausstellung im Haus am Waldsee nach. Ästhetische Strategien der Aneignung und der Legendenbildung und Auseinandersetzungen mit einer Biografie stehen neben Versuchen, Benjamin weiterzudenken

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Lesen bleibt Arbeit. Lesen braucht Zeit. Der Text als Korpus, der Wort für Wort angeeignet werden will: Der Berliner Künstler Mark Lammert hat Texte von Walter Bejamin in Schulheften abgeschrieben. Die Geste, mit der er sich der Lektüre wortwörtlich verschreibt, ist von anachronistischer Langsamkeit. Auf den aufgeklappten Heftseiten sind Felder ausgespart, die nebeneinander liegend große Leerstellen ergeben. Sie wirken wie eine Spur, ein Hinweis auf den Lesenden, der sein eigenes Leben mit der Lektüre verschränkt und dabei doch unsichtbar bleibt.

Dieser abstrakten Arbeit gegenüber hängt in der Ausstellung „Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Kunst der Gegenwart“ im Haus am Waldsee eine der erzählerischsten Positionen, von der Amerikanerin Aura Rosenberg. Als sie 2001 von New York nach Berlin kam, nahm sie Benjamins Erinnerungsbuch „Berliner Kindheit“ als Wegweiser durch die Stadt. Das war auch eine Recherche auf den Spuren des jüdischen intellektuellen Bürgertums. Oft führte ihr Weg ins Museum oder in Bibliotheken, konservierte Schichten der Zeit. In großen Farbfotografien reflektierte sie die Verluste der Geschichte seit Benjamins Zeit, indem sie die Muster der Aufbewahrung abtastete.

Über fünfzig Künstlerinnen und Künstler sind an der Ausstellung beteiligt. Seit den Sechzigerjahren haben nicht nur Generationen von Literaturwissenschaftlern und Kunsthistorikern die Schriften des Philosophen und Kunstsoziologen Walter Benjamin gelesen, sondern auch viele Künstler. Ihre Werke fügen der Rezeption Benjamins als Schlüsselfigur der Moderne eine weitere Ebene hinzu.

Den Strategien der Aneignung von Benjamins Werk stehen die Legendenbildungen um seine Person gegenüber und die Auseinandersetzung mit einer Biografie, die durch die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und den Selbstmord 1940 tragisch geprägt ist. Lutz Dammbeck hat einen ganzen Raum wie ein Archiv eingerichtet, voll mit Fotografien und Manuskripten, die die Fiktion verfolgen „What if he had arrived?“: Wie Walter Benjamin in den USA angekommen wäre, mit Timothy Leary an Drogenexperimenten teilgenommen, mit Heinz von Foerster an frühen Computern und im Biolab gearbeitet hätte und irgendwann in Vergessenheit gestorben wäre. Das ist vielleicht die schönste Geschichte über die Produktivität dieses Autors.

Dennoch: Zwischen der paradigmatischen Bedeutung, die die Benjamin-Rezeption für den Blick auf die Kunst und die Möglichkeit neuer Lesarten gehabt hat, der Verknüpfung mit Soziologie, Sprachphilosophie, Tagespolitik, und dem konkreten Bezug auf Benjamin als historische Figur klafft eine große Lücke, die von der Ausstellung nicht geschlossen werden kann. Die Kindheit, das Sammeln nach neuen Kriterien der Verknüpfung, der Engel der Geschichte, der Schachspieler: alle diese Bilder seines Denkens werden hier zu Topoi, deren Illustrierung aber mehr zu Mythen- und Legendenbildung als zur diskursiven Auseinandersetzung führt. Das aber erzeugt eine leichte Enttäuschung, es hier doch mehr mit nachgereichten Gesten der Verehrung zu tun zu haben als mit jener Kunst, in der sich die großen Umbrüche der ästhetischen Konzepte zeitgleich mit Benjamins theoretischer Arbeit an diesen Veränderungen ereigneten. Eine solche Ausstellung wäre freilich auch nur von einem großen Museum zu leisten und nicht von einem Kunsthaus, das gerade aus seiner kommunalen Trägerschaft entlassen wird in die eines privaten Fördervereins.

Einige Ausnahmen gibt es, zum Beispiel von Marcel Duchamp eine „Boite en Valise“: Sie bildet ein Museum in Koffergröße, in dem Duchamp seine eigenen Werke verkleinert und reproduziert hatte, sozusagen ein Konzentrat der Entwicklung vom Kubismus über das Readymade bis zur Auflösung des Werks in der Installation. Die Boite trägt der Frage Rechnung, wie die Techniken der Reproduktion den Status des Originals verändern. Ihre Entstehung geht auf die Zeit zurück, in der Benjamin an seinem Aufsatz über das „Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ schrieb, der so große Hoffnungen auf die Fotografie und neue politische Agitationsfelder der Kunst setzte.

Neben Duchamp hängt eine Arbeit von Timm Ulrichs von 1967, der den Buchtitel vom „Kunstwerk …“ so lange fotokopierte, bis nichts mehr zu erkennen war. Das war ein melancholischer Reflex auf das Verschwinden des Sichtbaren und des Signifikanten durch die Steigerung der Reproduktionstechniken. Doch indem Ulrichs dies Verschwinden ausstellte, erzeugte er eine neue Form des Festhaltens und der Erinnerung.

Benjamins Arbeit an der Erinnerung wird von den Kulturpessimisten gern gegen die Entwicklung neuer Medien ins Feld geführt. Dieser romantisierenden Vereinnahmung setzt die Ausstellung eine gewitzte Arbeit entgegen, die nur auf der Basis von aktuellen Möglichkeiten des Internets entstehen konnte. Eine ganze Wand zeigt Objekte von Joseph Beuys, Dokumente, Auflagenobjekte, T-Shirts, Titelseiten von Bild und Spiegel mit seinem Porträt, alles von den Galeristen der Galerie Kryptische Konzepte in einem Monat bei eBay für 2.500 Euro ersteigert. Sie beweisen damit eine neue Zugangsmöglichkeit zu Kunst und die Demokratisierung der Teilhabe.

Im Flur ist übrigens eine taz ausgestellt. Sie diente Joseph Kosuth 1994 als Träger für ein Zitat von Walter Benjamin, das als ein Textbalken quer über alle Seiten lief: „Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, dass nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.“ In diesem Sinn hat die Ausstellung dann doch ihre Stärken in der Spannung zwischen der Kleinteiligkeit persönlicher Annäherungen und den Spuren der großen Schneisen, die Benjamin in den Künsten und Wissenschaften hinterlassen hat.

Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, Di.–So. 12–20 Uhr, bis 30. Januar